Auf einen Blick
Unser eigenes Älterwerden nehmen wir am Aufwachsen unserer Kinder wahr. Oder umgekehrt: an den immer mehr werdenden grauen Haaren auf den Köpfen unserer Eltern. Mit zunehmendem Alter stellen sich auch gesundheitliche Probleme und körperliche Gebrechen ein. Logisch, dass Tochter oder Sohn den Eltern dann zur Hand gehen möchte. Doch nicht immer stösst das auf Gegenliebe. «Ältere Menschen legen grossen Wert auf Selbstbestimmung», sagt Corinne Hafner Wilson (48). Sie ist Fachverantwortliche im Bereich Hilfen zu Hause bei Pro Senectute Schweiz.
Selbstbestimmung darf dabei nicht mit Selbstständigkeit verwechselt werden. Es gibt Menschen, die vielleicht körperlich in der Selbständigkeit eingeschränkt sind, aber kognitiv noch selbstbestimmt ihren Alltag leben können. Dabei entstehen typische Situationen, in denen Angehörige es zwar gut meinen, aber unbeabsichtigt in die Selbstbestimmung und somit die Würde von Seniorinnen und Senioren eingreifen:
Handlungen ungefragt übernehmen
Hafner Wilson legt vor: «Wir müssen uns vom Gedanken lösen, dass ältere Menschen automatisch hilflos sind.» Gerade in der Küche oder im Haushalt gibt es Tätigkeiten, die vielleicht etwas schwerer fallen oder länger dauern. Wenn man der älteren Mutter die Arbeit wegnimmt und sie selbst macht, gibt man ihr das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden.
«Eine Lösung ist, die Aufgaben aufzuteilen», sagt die Expertin. So kann die Mutter die niedrigen Flächen abstauben und die Wäsche zusammenlegen, während der Sohn die hohen Schränke abstaubt und die Wäschekörbe trägt.
«Kutschieren»
Ist dein Elternteil auf einen Rollstuhl angewiesen, solltest du nicht ungefragt die Griffe übernehmen und anschieben. «Es kann das Gefühl auslösen, ein Objekt zu sein», sagt Hafner Wilson. Frage stattdessen, ob die Person geschoben werden möchte. Auch kleine Gesten ohne Worte können hilfreich sein. Zum Beispiel, indem man beim Begleiten den Ellenbogen hinhält. «Wenn die Person sich unsicher fühlt, hält sie sich fest», sagt die Fachfrau.
Eingriff in den Tagesablauf
«Ein grosser Eingriff in die Selbstbestimmung ist die Veränderung des Tagesablaufs», sagt Hafner Wilson. Braucht der Vater morgens Hilfe beim Aufstehen, solltest du dich auf seinen Rhythmus einstellen. Wenn er abends gerne noch lange fernsieht und ausschläft, macht es keinen Sinn, morgens um 7 Uhr zu erscheinen.
Bist du zusätzlich noch berufstätig, dann solltet ihr einen offenen Austausch über eure gegenseitigen Bedürfnisse führen. Findet ihr keinen Weg, könnt ihr auch externe Betreuung in Form von einer Spitex, Hilfen zu Hause oder dem Mahlzeitendienst in Anspruch nehmen.
Auf die Sprache achten
Es sind nicht immer Handlungen, mit denen du unbewusst in die Würde deiner alternden Eltern eingreifst, auch die Art der Kommunikation ist entscheidend. Gerade in Pflegesituationen kann man schnell in einen verniedlichenden Tonfall verfallen. Sätze wie «Wir gehen jetzt auf die Toilette» können aber verletzend sein.
Besser sei es, so Hafner Wilson, die Unterstützung in den Satz einzubauen. Formuliert würde das etwa so aussehen: «Soll ich dich auf die Toilette begleiten?» Oder: «Ich helfe dir, deine Jacke anzuziehen.» Diese Formulierungen geben den Seniorinnen und Senioren das Gefühl, als erwachsene Person anerkannt zu werden. Auch beim Thema Inkontinenz ist es ratsam, nicht von Windeln, sondern von Einlagen zu sprechen – so wird es auch in Pflegeheimen gehandhabt.
«Keine andere Spezies»
Wer merkt, dass sich die Eltern-Kind-Rollen verändern, sollte das ansprechen. «Es hilft, sich mit der Situation auseinanderzusetzen und Erwartungen auszutauschen», sagt die Expertin. Bei der Pflege, die in die Intimsphäre eingreift, lohnt es sich, über professionelle Unterstützung durch die Spitex nachzudenken. Du solltest dich bewusst fragen, wie viel du dir zumuten kannst. Wenn Angehörige die Pflege übernehmen, kann ein Pflegekurs helfen, solche Situationen richtig zu handhaben.
Das Wichtigste ist, deinen alternden Eltern mit Respekt zu begegnen. «Es handelt sich nicht um eine andere Spezies», sagt Hafner Wilson und schmunzelt. Ältere Menschen sind erwachsene Personen mit reicher Lebenserfahrung – und möchten auch genau so behandelt werden.