Publizistin Teresa Bücker (38) fordert mehr freie Zeit
«Wir müssen die 40-Stunden-Woche abschaffen»

Stellen Sie sich vor: Sie arbeiten weniger, haben aber genug Geld und ausreichend Zeit, sich für Mitmenschen zu engagieren und eigenen Interessen nachzugehen. Klingt gut? Publizistin Teresa Bücker (38) sagt: Es ist möglich.
Publiziert: 31.10.2022 um 17:14 Uhr
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Aktualisiert: 24.11.2022 um 09:50 Uhr
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Die Arbeit von Teresa Bücker (38) dreht sich um gesellschaftspolitische Fragen der Gegenwart und Zukunft.
Foto: Paula Winkler
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Karen SchärerTeamlead Gesellschaft

Der Bildschirm zeigt ein helles Zimmer in einer Altbauwohnung. Teresa Bücker (38) sitzt für das Videointerview im Homeoffice in Berlin. Mit «Alle_Zeit» ist gerade das erste Buch der einflussreichen Journalistin erschienen, Bücker ist eine gefragte und routinierte Gesprächspartnerin. Nach einem kurzen Austausch über das goldene Herbstlicht steigen wir schnörkellos um auf das Thema: Zeit. Für die Feministin Wurzel sozialer Ungerechtigkeit und Lösung gesellschaftlicher Probleme.

Frau Bücker, sträuben sich Ihnen die Nackenhaare, wenn Sie den Satz «Zeit ist Geld» hören?
Teresa Bücker: Ja. Wer Zeit nur mit Geld gleichsetzt, hat kein ausbalanciertes Leben. Wir sehen überhaupt nicht mehr, welche Wertigkeiten Zeit sonst noch hat.

Zeit, die in unserer Leistungsgesellschaft nicht ökonomisch verwertbar eingesetzt wird, ist nicht gleich viel wert.
Kinder lernen in der Schule, Zeit effizient einzusetzen und Zeitdruck als etwas Normales zu betrachten. Was sie nicht lernen, ist, dass es gut sein kann, sich bewusst Zeit zu nehmen und unterschiedliche Schnelligkeiten anzuwenden im eigenen Leben.

Vordenkerin über Arbeit und Gesellschaft

Teresa Bücker (38) ist freie Journalistin, Moderatorin und Beraterin. Ihre Arbeit dreht sich um gesellschaftspolitische Fragen der Gegenwart und Zukunft. Als Expertin wird die Deutsche regelmässig in politische Talksendungen und zu Konferenzen eingeladen. Ihr erstes Sachbuch «Alle_Zeit» (Ullstein, 2022) bezeichnet sie als «feministisches Plädoyer für eine neue Zeitkultur». Teresa Bücker ist zweifache Mutter und lebt mit ihrer Patchworkfamilie in Berlin.

Teresa Bücker (38) ist freie Journalistin, Moderatorin und Beraterin. Ihre Arbeit dreht sich um gesellschaftspolitische Fragen der Gegenwart und Zukunft. Als Expertin wird die Deutsche regelmässig in politische Talksendungen und zu Konferenzen eingeladen. Ihr erstes Sachbuch «Alle_Zeit» (Ullstein, 2022) bezeichnet sie als «feministisches Plädoyer für eine neue Zeitkultur». Teresa Bücker ist zweifache Mutter und lebt mit ihrer Patchworkfamilie in Berlin.

Für Sie ist Macht mit Zeit verknüpft. Inwiefern?
Zeit ist Macht. Demokratien bauen darauf, dass Menschen freie Zeit haben, die sie in politisches Engagement übersetzen können. Wenn Menschen diese Zeit nicht haben, entstehen Machtgefälle.

Wie meinen Sie das?
Es gibt Gruppen, die sich politisch nicht einbringen können. Etwa Menschen, die Schicht arbeiten. Oder Eltern oder pflegende Angehörige, die Erwerbs- und Fürsorgearbeit kombinieren. Auch sie haben kaum Möglichkeit, sich abends einzubringen oder einen Nachmittag freizumachen. Die Sichtweise dieser Menschen fehlt im öffentlichen Diskurs. Das ist ein demokratisches Problem.

Der eine Elternteil kann doch dem anderen den Rücken frei halten …
Durchaus, damit verzichtet ein Elternteil aber auf eigene zeitliche Bedürfnisse. Typischerweise nehmen sich häufig Männer mehr von dieser Zeit, und Frauen ordnen sich unter.

Die traditionelle Rollenteilung zeigt sich also auch bei nebenberuflichen Aktivitäten.
Wichtig wäre die Erkenntnis in der Partnerschaft: Die Interessen von uns beiden sind gleich relevant. Mal kann der eine stärker eigenen Interessen neben der Familie nachgehen, mal der andere. Man sollte aber nicht auf ein privates Zeit-Geschenk in einer Partnerschaft angewiesen sein, um sich gesellschaftlich oder politisch zu engagieren. Wir sollten nicht ausblenden, dass es Menschen gibt, die sich allein um Angehörige kümmern, allein Kinder grossziehen.

Eine kürzere Arbeitszeit sollte nicht eine individuelle Sache sein, sagt Teresa Bücker. Denn: Gute Arbeitsbedingungen und gute Lebensbedingungen sind immer auf grössere Arbeiterbewegungen zurückgegangen.
Foto: Paula Winkler

Wie könnte man allen Menschen Zeit für Engagement ermöglichen?
Es gibt verschiedene Instrumente. Eine Entlastung für Eltern ist eine gute Kinderbetreuung, die bezahlbar ist und nicht nur die Arbeitszeiten abdeckt, sondern noch Freizeit oder Zeit für Engagement enthält. Weiter …

... Moment: Ist es richtig, das Kind länger in der Kita zu lassen, damit sich die Eltern etwas gönnen können?
Es muss kindgerecht sein, das ist klar. Doch auch Eltern sollten freie Zeit haben. Wenn wir Eltern bis an den Rand der Erschöpfung bringen, können sie weder gute Eltern noch gute Mitarbeiter im Unternehmen sein. Es ist für uns alle von Interesse, dass es Kindern und Eltern gut geht. Denn ohne Kinder gibt es keine Gesellschaft mehr: Es fehlen die künftigen Menschen, die Produkte kaufen und Services in Anspruch nehmen.

Welche Hebel gibt es noch?
Wir müssen die 40-Stunden-Woche abschaffen. Eine Arbeitszeitverkürzung zeigt dem Menschen: Du bist mehr als nur eine Person, die ein Gehalt verdienen muss.

Dabei werden Frauen doch aufgefordert, höhere Pensen anzunehmen.
Wenn wir eine Welt haben, in der alle Menschen Vollzeit arbeiten, bricht das Ehrenamt und das gesellschaftliche Engagement ein.

Nehmen wir an, alle würden weniger arbeiten. Was für eine utopische Gesellschaft sehen Sie vor sich?
Vorneweg: Befürchtet wird, dass eine Reduktion der Arbeitszeit dazu führt, dass die Produktion zusammenbricht und wichtige Arbeiten nicht mehr geleistet werden. Doch heute sind Arbeitszeiten in einer Gesellschaft sehr ungleich verteilt. Die einen arbeiten sehr lang, die anderen finden überhaupt keine Jobs, mit denen sie ein gutes Einkommen erwirtschaften können. Es geht also um eine gleichmässige Verteilung auf alle Menschen, die in einem Land leben, sodass der materielle Wohlstand ein bisschen gerechter verteilt wird.

Die Arbeiten in einer Gesellschaft können also auch mit reduzierten Erwerbszeiten geleistet werden …
… und wir bekommen alle mehr Freizeit. Das ist wichtig, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Es würde jede Gesellschaft beleben und innovativer machen, wenn wir Austausch nicht nur beruflich pflegen, sondern auf andere Menschen ausweiten.

Wie viele Stunden sollten als Vollzeit gelten?
Wenn man die Arbeitszeitwünsche der Menschen anschaut, liegen diese beispielsweise in Deutschland bei unter 30 Stunden. Menschen glauben, mit der frei gewordenen Zeit könnten sie alles nebenher gut schaffen. Wenn wir die vorhandene Arbeit gerechter verteilen, könnten wir schon jetzt der 20-Stunden-Woche nahe kommen.

Die sogenannte Care-Arbeit – ein Kind aufziehen, betagte Angehörige versorgen – wird im Privaten gratis geleistet. Das ist Ihnen ein Dorn im Auge.
Care-Arbeit muss als richtige Arbeit anerkannt werden. Dann kann man sich darüber unterhalten, wie viel Arbeit eigentlich zu viel ist. Wenn man einen Vollzeitjob mit dieser Care-Arbeit kombiniert, kommt man auf ein Arbeitsvolumen, das gesundheitsgefährdend ist.

Viele Mütter werden sagen: Ich stecke freiwillig beruflich zurück, bin gern mit den Kindern.
Viele von uns ziehen grosse Freude aus ihrem Beruf und sind mit Leidenschaft in diesen Beruf gegangen – und möchten trotzdem dafür bezahlt werden. Man darf auch Elternschaft geniessen; ich tue das auch. Aber es ist stossend, wenn nur der eine Elternteil das sagt. Und es ist typischerweise immer die Mutter, die sich die Zeit für die Kinder nimmt und daraus einen grossen finanziellen Nachteil hat.

Das Thema Bezahlung müssen wir vertiefen. In Ihrer Gesellschaftsvision ist Care-Arbeit entlöhnt. Gleichzeitig ist die Arbeitszeit reduziert bei vollem Lohn. Wie finanzieren wir das?
Die Care-Arbeit, die jetzt geleistet wird, ist eigentlich schon Teil der Wirtschaft, weil wir darauf angewiesen sind, dass Kinder und Alte versorgt sind. Wenn wir uns privat weigern, Care-Arbeit zu machen, muss das aus Steuern finanziert werden.

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Wir belasten also alle Mitglieder der Gesellschaft steuerlich stärker, um diesen Gesellschaftsentwurf umzusetzen. Damit hat aber jede und jeder Einzelne weniger finanzielle Ressourcen.
Das Geld würde sich anders verteilen, aber wir sehen in vielen Ländern, dass der Ausbau der Kinderbetreuung zum Beispiel die Wirtschaftsleistung gesteigert hat, weil dadurch sehr viele Mütter wieder in den Arbeitsmarkt gekommen sind. Wenn nun Männer ihr Pensum etwas reduzieren, um sich an der Kinderbetreuung stärker zu beteiligen, dafür aber die Mütter früher in den Arbeitsmarkt zurückkommen, könnte es sein, dass die Wirtschaftsleistung steigt, somit das Steuervolumen insgesamt steigt und sogar mehr Geld verteilt werden könnte.

Was meint der Begriff Zeitgerechtigkeit?
Zeitgerechtigkeit ist erreicht, wenn alle Menschen ähnlich viel freie Zeit zur Verfügung haben, die sie für ihre Interessen nutzen können. Für mich impliziert der Begriff auch, dass ein signifikantes Volumen an Zeit übrig ist, das wir nutzen können. Persönlichkeitsentwicklung ist auf freie Zeit angewiesen.

Jüngere Generationen scheinen Ideen wie die Ihren nicht utopisch zu finden. Um mehr selbstbestimmte Zeit zu haben, verzichten sie auf Vollzeitpensen und Karrierechancen.
Ich finde die Entwicklung bedenklich, dass eine kürzere Arbeitszeit als individuelle Sache gesehen wird, die man sich gönnt, wie man sich vielleicht einen teuren Urlaub gönnt. Wir blicken auf eine lange Tradition von Arbeiterbewegungen zurück, die Errungenschaften wie kürzere Arbeitszeiten, bezahlten Urlaub oder bezahlte Krankentage erreicht haben. Wir brauchen das politische Bewusstsein, dass gute Arbeitsbedingungen und gute Lebensbedingungen immer auf grössere Bewegungen zurückgehen.

Nach einer kürzlichen Volksabstimmung arbeiten alle in der Schweiz bis 65, um danach den «verdienten Ruhestand» zu geniessen.
Es würde uns als Gesellschaft guttun, wenn wir einen ehrlichen Umgang mit dem Ruhestand finden. Und anerkennen, dass er vielleicht gar nicht der Ort ist für all unsere Träume, und dass Sachen, die wir uns wirklich wünschen, auch einen Platz in der Gegenwart brauchen.

Man soll im Moment leben?
Es klingt so abgegriffen. Aber man kann viele Sachen halt nicht nachholen. Wenn ich keine Zeit habe, Freundschaften zu pflegen, sind die nicht plötzlich da, wenn ich 70 bin. Ich brauche für diese Dinge Zeit. Oder wenn ich mein ganzes Berufsleben lang an meine gesundheitlichen Grenzen gehe, stehe ich im Ruhestand vielleicht da und von meiner Gesundheit ist nicht viel übrig.

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