Auf einen Blick
Beobachtet mich dieser Mann, oder bilde ich mir das nur ein? Läuft diese Person zufällig in dieselbe Richtung wie ich, oder verfolgt sie mich? Die Aufmerksamkeit ist geschärft, das Herz schlägt schneller und im Bauch breitet sich ein mulmiges Gefühl aus. Im Dunkeln allein nach Hause zu laufen oder spätabends im Parkhaus aus dem Auto zu steigen, kann belastend sein – insbesondere für Frauen.
Was meist bei einem unbehaglichen Gefühl bleibt, endet in manchen Situationen in einem Verbrechen. Laut der polizeilichen Kriminalstatistik ereigneten sich 2023 in der Schweiz 5,9 Prozent mehr schwere Gewaltstraftaten als im Jahr zuvor. Es gab 223 Vergewaltigungen, 274 sexuelle Nötigungen und 1211 sexuelle Belästigungen im öffentlichen Raum. Gerade jetzt, wo es wieder früher dunkel wird, kann das Sicherheitsgefühl nachlassen. Kann ein Pfefferspray, Taser oder ein Schlagring dieses erhöhen? Und sind solche Gegenstände in der Schweiz überhaupt erlaubt?
Selbstverteidigungsmittel im Glitzer-Look
Auf Tiktok werden Selbstverteidigungsmittel für Frauen glorifiziert. In Videos sind bunte Schlagringe, glitzernde Pfeffersprays oder Messer zu sehen, die in Haarkämmen versteckt sind. Verkauft werden sie unter anderem bei chinesischen Onlineshops wie Temu. Aber Achtung: Die meisten dieser Gegenstände gelten hierzulande als Waffen und sind deshalb verboten. Eine Ausnahme stellt der Pfefferspray dar.
Bernhard Graser (53), Mediensprecher der Kantonspolizei Aargau, sagt: «Es kann Frauen ein gutes Gefühl geben, zu wissen, dass sie einen Pfefferspray dabei haben und sich im Notfall wehren könnten.» Einen Pfefferspray einzusetzen, braucht aber oft Überwindung. «Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass sie sich mental und körperlich darauf einstellen müssen, den Pfefferspray im Ernstfall zu benutzen.»
Pfefferspray griff- und einsatzbereit haben
Gemäss Graser sollte man den Pfefferspray griffbereit haben. Liegt er zu unterst in der Tasche, wo man ihn zuerst noch suchen muss, verliert man Zeit. Damit man über die korrekte Handhabung informiert werde, sei es wichtig, einen Pfefferspray im Fachhandel zu kaufen. Viele Pfeffersprays enthalten eine gelartige Substanz, sodass die Gefahr, durch einen Windstoss selbst getroffen zu werden, gering ist. Der Experte rät, in einer heiklen Situation lieber zu früh als zu spät den Polizeinotruf 117 zu wählen.
Einen Pfefferspray darf man nur benutzen, wenn eine akute Bedrohung besteht. Jenny Wattenhofer (37), Rechtsanwältin aus Pfäffikon SZ sagt: «Ein ungutes Gefühl gegenüber einer anderen Person rechtfertigt den Einsatz von Pfefferspray nicht.» Wird eine Frau von einem Mann belästigt, der ihr körperlich überlegen ist, rät die Expertin den Frauen, sich zunächst verbal zu wehren und laut um Hilfe zu rufen, um Aufmerksamkeit zu erregen. «Erst wenn das nichts bewirkt und der Mann weiterhin eine Bedrohung darstellt, darf man den Pfefferspray einsetzen.» Die Verhältnismässigkeit der Abwehr sei jeweils entscheidend. War die Abwehr verhältnismässig, hätte auch eine Anzeige des Täters gegen das Opfer kaum Erfolg.
Der Pfefferspray ist eine Möglichkeit, sich im Notfall zu wehren. Eine andere sind flinke Bewegungen, die man in einem Selbstverteidigungskurs lernt wie zum Beispiel bei Pallas. Das ist eine Interessengemeinschaft, die sich seit über 30 Jahren für die Selbstverteidigung von Frauen, Mädchen und gewaltbetroffenen Menschen einsetzt.
Stärke und Selbstsicherheit ausstrahlen
Katharina Eisenring (48), Fachperson Gewaltprävention bei Pallas, sagt: «In erster Linie lernen die Teilnehmenden, wo ihre persönlichen Grenzen sind und wie sie diese kommunizieren können.» Ein sehr wichtiger Aspekt sei die Körperhaltung, mit der man Stärke und Selbstsicherheit ausstrahlen könne. «Das Wissen über die Wirkung der Körpersprache hilft den Teilnehmenden, sich stark und wehrhaft zu zeigen, was wiederum auch ihre Gefühle beeinflusst und sie sich tatsächlich stärker und wehrhafter fühlen.»
Der Fokus liege darauf, das Selbstbewusstsein der Teilnehmenden zu stärken und ihnen zu zeigen, wie sie in Gefahren und Konfliktsituationen reagieren können, um sich selbst zu schützen. Es gehe nicht darum, das Handeln in solchen Situationen in richtig oder falsch einzuteilen, so die Expertin. «Bei (sexuellen) Übergriffen wird das Opfer sehr oft gefragt, wie es sich verhalten hat. Das beinhaltet die unterschwellige Haltung, dass das Opfer Mitschuld haben muss an der Tat.» Die Verantwortung für die Tat liege aber immer bei der Tatperson und nicht beim Opfer.
Schock- und Entwindungstechniken als Gegenwehr
Neben der Stärkung des Selbstbewusstseins ist die körperliche Gegenwehr unter Berücksichtigung des Notwehrrechts bei der Selbstverteidigung ein grosses Thema. Sie kommt gemäss Eisenring erst zum Einsatz, wenn die deeskalierenden Methoden keine Wirkung gezeigt haben. «Da die Täter oft kräftiger und stärker sind als die Opfer, stehen bei der Selbstverteidigung einfache und effektive Methoden im Zentrum.» Das Ziel sei es, sich mithilfe von Schock- und Entwindungstechniken möglichst schnell aus einer gefährlichen Situation befreien und wegrennen zu können.
Hält ein Täter zum Beispiel das Handgelenk des Opfers fest, geht es darum, den Fokus vom Griff am Handgelenk wegzulenken, indem das Opfer dem Täter auf den Fuss oder zwischen die Beine tritt. Die Teilnehmerinnen erhalten auch Hintergrundwissen, unter anderem zu Freezing, also wenn sich ein Opfer weder körperlich noch verbal wehren kann, sondern in eine Schockstarre verfällt. Eisenring sagt: «Wir zeigen auf, wie Frauen nach einer Schockstarre den Fokus darauf setzen können, ihre eigenen Fähigkeiten einzusetzen, um einen Weg aus der Situation zu finden.»