Eine Pensionärin sitzt am Weihnachtsabend alleine in ihrer Wohnung und starrt mit traurigem Blick auf ein Foto, das offenbar ihren verstorbenen Mann zeigt. Ist er Covid zum Opfer gefallen? Es ist naheliegend. Genauso wie der Umstand, dass es im aktuellen Werbefilm von Migros, aus der die Szene stammt, zu einem Happy End kommen muss. Dafür sorgt eine putzige Drohne Namens Robin mit einem absichtlich falsch gelieferten Einkaufssack. Die Witwe sitzt am Schluss auf dem Sofa ihrer Nachbarsfamilie und bedient sich gerührt aus einer Schachtel Pralinen, die ihr eine junge Frau hinhält.
Rührselige Geschichten wie diese sind in den aktuellen Weihnachtswerbungen omnipräsent. In Zeiten von Corona ist neu eine pädagogische Note zu spüren, wenn zum Beispiel – ebenfalls Migros – zeitgleich mit der Weihnachtswerbung eine «Initiative gegen die Einsamkeit» startet mit dem Slogan: «Lassen wir niemanden alleine.»
Systemrelevanter Sympathieträger
Auch bei Coop geht es um die Überwindung von Einsamkeit respektiver ums «Füreinander-da-Sein», wenn Schneemonster Nevi lernen muss, dass zu seiner neuen Freundschaft mit einem Eichhörnchen auch Distanz gehört. Genau diese Distanz macht einem alleinerziehenden Vater im Video von Aldi zu schaffen. Weil er als Busfahrer systemrelevant ist, muss er seinen Teenagersohn in der Adventszeit allein zu Hause zurücklassen. Ein Song von Adele untermalt dieses Drama. «Endlich wieder Weihnachten. Mit allem, was dazugehört», heisst es im Abspann. «Auch aufeinander zuzugehen.»
Warum sind wir offenbar gerade so empfänglich für grosse Gefühle? Weil sich Konsumenten in der Weihnachtszeit etwas gönnen möchten, würden sie nicht so sehr auf die Preise achten, sondern darauf, welche Marke ihnen das beste Gefühl verschaffe, sagt Gordon Nemitz, Stratege und Geschäftsführer von Thjnk. Die Zürcher Agentur hat die neuste Helsana-Kampagne kreiert oder die Werbefilme mit dem sogenannten Denner-Baby. Mit Weihnachtswerbung würden Firmen intensiv versuchen, Kundschaft auf der Gefühlsebene für sich zu gewinnen, sagt Nemitz. «Gerade jetzt, wo wir eine Pandemie durchleben, sind wir noch empfänglicher dafür.»
Wer erziehen will, muss mit gutem Vorbild vorangehen
Wichtig sei, fügt Nemitz an, dass Unternehmen nicht nur so tun würden, als seien ihnen soziale Themen wie zum Beispiel Einsamkeit im Alter wichtig. «Wer die Herzen erobern will, muss die Werte, die er nach aussen kommuniziert, auch vorleben.» So ermuntert zum Beispiel die Migros ihre Kunden im Rahmen des Projekts Tavolata unter Berücksichtigung der BAG-Empfehlungen in selbst organisierten Gruppen füreinander zu kochen, und vermittelt dazu Kontakte in der ganzen Schweiz.