Umdenken bei Modelabels
Senioren wollen keine Senioren-Models

Senioren werden als Modekonsumenten immer wichtiger. Umso öfter versuchen Marken mit Menschen zu werben, in denen sich ältere Menschen wiedererkennen. Doch das ist gar nicht so einfach.
Publiziert: 31.05.2020 um 13:35 Uhr
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Aktualisiert: 23.04.2021 um 17:11 Uhr
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Schauspielerin Helen Mirren (74) geht für eine Show von L’Oréal über den Laufsteg.
Foto: Getty Images
Jonas Dreyfus

Noch nie gaben Senioren so viel Geld für Mode aus wie heute. Laut einer aktuellen Marktanalyse der britischen Denkfabrik International Longevity Centre stieg der Gesamtbetrag, den alle älteren Menschen weltweit für Schuhe und Kleider ausgeben, zwischen 2011 und 2018 um 21 Prozent auf umgerechnet 3,5 Milliarden Franken an. Wenn es so weitergeht, sind über 50-Jährige und Senioren ab 2040 die wichtigste Zielgruppe in diesem Sektor.

In der Schweiz dürfte es vielleicht noch schneller gehen. Gemäss Pro Senectute macht der Einzelhandel bei uns schon jetzt rund die Hälfte des Umsatzes mit über 50-Jährigen und Senioren. Warum, liegt auf der Hand: Es gibt immer mehr Senioren, ihr durchschnittliches Renteneinkommen war noch nie so hoch, genauso wie ihre Lebenserwartung.

«Mit 60 hat man das Leben heute noch vor sich», sagt Gordon Nemitz von der Werbeagentur Thjnk Zürich. In seiner Branche spreche man deshalb oft von «Golden Agern». «Senioren und Rentner – das klingt etwas zu sehr nach Lebensende.»

Generationenkonflikte waren gestern

Als Stratege und Geschäftsführer versucht sich Gordon Nemitz ins Konsumentenhirn hineinzudenken, um zu verstehen, wie Menschen ticken. «Senioren orientieren sich stark an jungen Lebensstilen», sagt er. Das entspricht dem Bild, welches sich – zumindest in den Städten der Schweiz – offenbart: Ältere Menschen tragen Freitag-Taschen, sie kaufen bei H&M oder bei Zara ein oder stehen in Sportgeschäften in der Schlange. Die Grenzen zwischen Jung und Alt würden immer stärker verschwimmen, sagt Nemitz. «Die Zeit der grossen Generationenkonflikte, wie wir sie aus den 60er-Jahren kennen, ist vorbei.»

Das schlägt sich in der Werbung nieder. Während sie Senioren früher – wenn überhaupt – gezielt ansprach, heisst das Schlagwort heute «Ageless Marketing» (alterslose Vermarktung). Das heisst zum Beispiel, dass in einer Anzeige für ein Beauty-Produkt drei Frauen aus verschiedenen Generationen gezeigt werden, die miteinander interagieren. Ist es eine Frau mit ihrer Grossmutter und ihrer Teenager-Tochter? Die Konsumentin weiss das nicht so genau, hat aber auch nicht das Gefühl, das Produkt, für das geworben wird, sei explizit für sie konzipiert. Denn genau das wollen Seniorinnen nicht – das Gefühl haben: Wenn ich das kaufe, bin ich definitiv alt.

Geriatrisches Shopping-Erlebnis

Bis der Markt verstand, worauf die «Zielgruppe der Zukunft» anspringt, hat es gedauert. Vor allem Seniorinnen waren lange Zeit schlecht bedient, mussten mit speziell auf sie ausgerichteten Läden und Onlineshops vorliebnehmen. In Drogerien gingen grossmütterliche Wässerchen über den Ladentisch, Boutiquen «für Damen im fortgeschrittenen Alter» erinnerten an geriatrische Einrichtungen. Es waren Orte, bei denen die Kundin hoffte: Hoffentlich sieht mich niemand!

In den 2000er-Jahren versuchten Marken das Thema Alter zu enttabuisieren, indem sie seine Erscheinungen in Kampagnen demonstrativ zur Schau stellten. Das Paradebeispiel dafür: die «Schönheit kennt kein Alter!»-Kampagne der amerikanischen Körperpflegemarke Dove. Starfotografin Annie Leibovitz setzte für sie «echte» Frauen im Alter von 54 bis 63 in Szene – nackt und ungeschminkt.

Lifestyle-Magazine auf der ganzen Welt bejubelten die Anzeigen und TV-Spots hysterisch, doch bei der Zielgruppe fiel die Kampagne durch. Die Verkäufe in den USA stagnierten. Die Werbung scheine sich an Leute zu richten, die aufgegeben hätten, sagte eine Marketing-Expertin damals in einem Interview mit einem Branchenmagazin.

Zu viel Realität ist eine Zumutung

In einem Markt, in dem Anti-Aging-Produkte dominieren, waren die «echten» Dove-Frauen dann offenbar doch etwas zu viel zugemutete Realität. Oder anders gesagt: Während Nicht-Senioren bei «ungeschönten» Altersdarstellungen reflexartig applaudieren, fühlen sich Senioren von ihresgleichen optisch offenbar weniger angesprochen.

Eine Studie des Gottlieb Duttweiler Instituts von 2015 gibt Hinweise darauf, warum das so sein könnte. Senioren in der Schweiz wurden dabei nach ihrem gefühlten Alter befragt. Das Ergebnis: 60- bis 70-jährige Schweizerinnen und Schweizer fühlen sich im Durchschnitt 12 Jahre jünger. 71- bis 80-jährige sogar 16 Jahre. Die Identifikationsfigur einer frischgebackenen, 64-jährigen Rentnerin ist demnach eine 52-jährige Frau.

Christy Turlingtons graues Haar

Wie wichtig es ist, ältere Kundinnen anzusprechen, hat jetzt auch die Luxusmode kapiert. «Endlich zeigt sich mal etwas Altersvielfalt auf dem Laufsteg!», schrieb eine Modejournalistin in einem Artikel des «New York»-Magazins Anfang Jahr.

Sie hatte die Models unter die Lupe genommen, die an den saisonalen Modeschauen in den USA und Europa für die grossen Marken über den Catwalk gingen. Wie immer waren die meisten von ihnen jung bis blutjung. Als gut vertreten zeigten sich aber auch Frauen, die ihre Teenagerzeiten schon länger hinter sich haben.

Unter ihnen Pat Cleveland (69), die in den 60er- und 70er-Jahren als eines der ersten afroamerikanischen Topmodels Karriere machte und sich gerade von einer Krebserkrankung erholt hat. Mit dabei auch Swimwear-Model Christie Brinkley (66) und Patti Hansen (62), die Frau von Keith Richards. Supermodel Christy Turlington (51) ging für den Designer Marc Jacobs über den Laufsteg. Im Scheinwerferlicht schimmerte ihr angegrautes Haar.

Vergänglichkeit ist nicht mehr tabu

Natürlich haben diese Wesen wenig mit dem zu tun, was der grösste Teil der Menschen sieht, wenn er in die Spiegel blickt. Das gilt auch für Männer: Mancher Dreissigjährige würde wohl viel dafür geben, den Körper des heute 51-jährigen Marcus Schenkenberg zu besitzen, in den 90er-Jahren das erste männliche Supermodel der Welt.

So gut ihre Gene und so talentiert ihre Schönheitschirurgen auch sein mögen: Dass diese Art von Models immer öfter auf den Laufstegen und in Werbekampagnen auftauchen, ist trotzdem ein Zeichen dafür, dass sich die Zeiten geändert haben, in denen die Mode- und Beauty-Industrie jeder Art von Vergänglichkeit den Krieg erklärte.

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