Warteschlangen vor dem Hermès-Shop am Zürcher Paradeplatz sorgten an Weihnachten für Erstaunen. Und nun – immer noch in der Pandemie – erregt das Pariser Luxuslabel erneut Aufsehen: mit einer Handtasche aus veganem Leder.
Tierliebende Fashionistas können bald Besitzer des legendären «Birkin Bag» mit einem Modell aus «Fine Mycelium» in den Schatten stellen. Das gute Stück ist nicht wie das bekannteste der Hermès-Kollekion aus Leder, sondern aus den fadenförmigen Zellen eines Pilzes!
Der natürliche Kunststoff sei wie «Pfirsichhaut, gepaart mit der Belastbarkeit von Leder», verspricht das Mode-Imperium.
Vegane Pumps- und Sandalen-Kollektion
Leder, für das kein Tier zu sterben braucht, ist der neuste Stern am Modehimmel. Experten prophezeien dem Material schon 2025 ein Umsatzpotenzial von 89 Milliarden Dollar, auch in der Schweiz.
Im Juni geht hier das Start-up Sashay mit einer veganen Pumps- und Sandalen-Kollektion online, die Zürcher Marke Rive Claire lancierte kürzlich ebenfalls Handtaschen. Und die Portemonnaies von Sohotree waren so schnell ausverkauft, dass die Zürcher Firma ihr Sortiment noch im Mai um einen Rucksack und neue Handyhüllen erweitert.
Tillmann Lang, Chef von Yova, einer Plattform für nachhaltige Investments, spricht vom nächsten grossen Trend: «Es gibt eine ganze Reihe von Schweizer Jungunternehmen, die zurzeit an veganen Alternativen tüfteln.»
Äpfel statt Tierhaut
Die Taschen von Audrey Nussbaumer (37), der Gründerin von Rive Claire, wirken beinahe ebenso erlesen wie die von Hermès, allerdings kosten sie mit rund 450 Franken sehr viel weniger. «Statt der Haut eines Tieres brauchen wir für ein kleines Modell etwa fünf Äpfel», sagt sie.
Die Start-ups arbeiten mit «Apple Skin»: Schalen, Kerne und Stiele aus der Apfelsaft-Produktion werden getrocknet, pulverisiert und mit Baumwolle und – teils recyceltem – Polyester und Polyurethan gemischt, die Oberfläche erhält eine Prägung in Lederoptik. «Das Resultat sieht aus wie Leder, fühlt sich an wie Leder und ist genauso resistent.»
Sibylle Oetiker (39) von Sashay sagt: «Früher musste ein hochwertiger Schuh für mich aus Leder sein, alles andere war unbequeme Billigware. Aber irgendwann wollte ich das Tierleid und die Umweltverschmutzung, die dahinter stecken, nicht mehr in Kauf nehmen.»
Schuhe aus Apfelleder, Jacke aus Weinblättern
Sohotree bezieht seine Apfeltrester aus Südtirol. «Norditalien ist mit 60 Millionen Apfelbäumen und dem Mode- und Leder-Know-how das Epizentrum des Apple Peels», sagt Mitgründer Lucas Knecht (26).
«Der Vorteil von Äpfeln ist die Qualität des Materials, der Umstand, dass sie nicht eingeflogen werden müssen, und dass es sich um Resteverwertung handelt.» Weitere Lederalternativen entstehen aus Algen, Ananasblättern oder Kakteen.
Auch PKZ führt Schuhe aus Apfelleder, H&M seit März eine Jacke aus Weinblättern, Jelmoli und Globus bieten Pflanzenfaserartikel an. Die Interieurs der US-Automarke Tesla sind standardmässig vegan, Stardesigner Philippe Starck baut ebensolche Sofas.
Vegane Alternativen wie beim Food
Geht es nach dem Pelz nun auch dem Leder an den Kragen? Es etabliere sich ein wachsendes Bewusstsein für das eigene Konsumverhalten, so Marktforscher René Jeitziner von GIM Suisse: «Das zeigt sich neben der Lebensmittelbranche auch in der Bekleidungsindustrie, wo Leder wegen seines Land-, Wasser- und Energieverbrauchs in der Kritik steht.» Bis eine breite Masse auf Echtleder verzichten könnte, brauche es Alternativen ohne Einschränkungen für den Konsumenten: «Im Foodbereich braucht es etwa vegane Würste, welche den Fleischerzeugnissen in Geschmack und Optik in nichts nachstehen, bei veganen Ledertaschen ein wertiges Material ohne Qualitätsverlust und optisch ansprechendes Design.»
Audrey Nussbaumer von Rive Claire hat sich genau das zum Ziel gesetzt: «Vegane Lederalternativen strahlten lange einen spröden Ökocharme aus – damit erreichten sie praktisch nur Tierschützer. Wir machen vegane Taschen, die auch andere Kunden überzeugen können.» Hinter den neuen Labels stehen denn auch keine radikalen Aktivisten, sondern drei Flexitarier mit Trend-Gespür: Nussbaumer ist Abteilungsleiterin in der Haute Horlogerie, Lucas Knecht HSG-Absolvent, Sibylle Oetiker ehemalige Kaderfrau einer Grossbank.
In Kunstleder steckt mehr Plastik als Nachhaltigkeit
Stéphane Küpfer verweist auf die Vorschriften seiner Branche: «Veganes Leder gibt es per Definition und der Schweizerischen Normen-Vereinigung nicht.» Der Präsident des Schweizer Lederverbands: «Uns ist wichtig, dass die Firmen korrekt kommunizieren: Das sind Kunststoff-Pflanzen-Mischgewebe, alles andere ist reines Marketing, um die Konsumenten zu täuschen.» Küpfer und sein Verband wollen nun Massnahmen ergreifen, um die Bezeichnung «Leder» in der Schweiz besser zu schützen.
Gäbe es keine Weiterverarbeitung von Tierhäuten, müssten sie entsorgt werden, sagt Küpfer: «Solange Menschen Fleisch essen, gibt es Leder, also kann man es auch nutzen.» Gegerbte Tierhaut sei belastbar, flexibel, lange halt- und biologisch abbaubar. «In vielen Alternativen hingegen stecken Kunststoffe, deren Umweltverträglichkeit spätestens beim Entsorgen infrage gestellt wird. Die meisten haben zudem eine kürzere Lebensdauer als Leder und landen schneller im Abfall – wie nachhaltig ist das denn?»
Klar: Ist ein Lederimitat vegan, bedeutet das lediglich, dass dafür keinem Tier die Haut über den Kopf gezogen wurde – aber nicht zwingend, dass es auch der Umwelt nützt. In Kunstleder steckt mehr Plastik als Nachhaltigkeit, und in den organischen Produkten sind es rund 40 Prozent Kunststoff, allerdings teilweise rezykliert. «Es ist noch nicht möglich, vollständig biologisch abbaubare High Heels zu kreieren, da etwa Holzstilettos nicht die nötige Statik mitbringen», so Sibylle Oetiker von Sashay. Der Polyurethan-Anteil sei jedoch wasserbasiert, giftfrei und deutlich weniger schädlich für die Umwelt als Kunstleder, das auf Erdöl basiert.
Wer also Wert auf vegane oder nachhaltige Produkte legt, muss die Etiketten studieren – auch bei Hermès.
Ganz vegan ist nämlich auch die neue Handtasche nicht: Die Henkel bestehen aus Kalbsleder.