Der Antrieb, diesen Artikel zu schreiben, ist ein ganz persönlicher: Ich bin Mutter eines Teenager-Sohns, die irgendwann so in 15 bis 20 Jahren auch gerne mal Grossmutter werden möchte. Und ich merke zunehmend: Junge Männer haben es heutzutage schwer. Auch wenn sie Frauen gegenüber immer noch privilegiert sind.
Heterosexuelle Beziehungen sind komplizierter geworden. Nur schon eine Frau anzusprechen, scheint mir als Generation-X-Mutter heutzutage schwierig: Alles scheint bei jungen Frauen heutzutage als übergriffig zu gelten, glaubt man Zeitungsartikeln und Onlinekommentaren. Und so stellt sich mir die bange Frage: Wie verhindere ich, dass mein Sohn dereinst zum übergriffigen – pardon – Arschloch wird? Und auf der anderen Seite: Wie findet mein Sohn dereinst überhaupt je eine Freundin? Und wie um Himmelswillen werde ich je zur Grossmutter?
Es hätte ein Knigge für Jungs werden sollen
Eigentlich hätte dies deshalb ein ganz anderer Artikel werden sollen. Einer, der fragt, was heutzutage junge Frauen von Männern eigentlich wollen. Ein Artikel, der Männern, insbesondere jungen Männern, so eine Art Anleitung zum Umgang mit Frauen gibt.
Nur wird es einen solchen Artikel nicht geben. Die Recherche zeigt: Das Thema ist einfach zu komplex. Was es aber geben wird: eine Übersicht über die aktuelle Studienlage, die aktuelle gesellschaftliche Lage, eine Expertenmeinung und einen Lesetipp, der dem gesunden Menschenverstand einer mittlerweile fast 50-jährigen Frau (mir) entspringt, die in ihrem Leben ein gerüttelt Mass an unerwünschtem männlichem Verhalten mitgekriegt hat – von tausend sexistischen oder einfach doofen Anmachsprüchen über Exhibitionisten im Tram, Park und Zug, über den Professor mit den wandernden Händen (und der darauffolgenden ungenügenden Note, wenn man sich halbwegs heil entzogen hat) bis hin zu handfest mittelgefährlichen Situationen.
Und, der Fairness halber: Viel häufiger noch gab es in meinem bisherigen Leben wunderbares, tolles und herzerwärmendes männliches Verhalten. Unverbrüchliche Freundschaft, unkomplizierte Hilfe, romantische Gesten, Dasein in schwierigen Lebenslagen, Dasein in lustigen Lebenslagen.
Für Männer wirkt eine Beziehung lebensverlängernd – für Frauen nicht
Eine Bestandesaufnahme scheint aber tatsächlich nötig zu sein, insbesondere für junge Männer: Denn während Langzeitstudien belegen, dass Frauen, die unverheiratet und kinderlos bleiben, gesünder und glücklicher sind und länger leben als verheiratete Frauen mit Kindern, gilt für Männer gemäss Paul Dolan, Professor für Verhaltensforschung an der renommierten London School of Economics, das Gegenteil: Verheiratete Männer sind glücklicher, haben weniger Unfälle, weniger Depressionen und leben länger.
Trotzdem scheinen insbesondere junge Männer bindungsunfähiger denn je: Eine deutsche, vielzitierte Studie vom Frühling 2023 besagt, dass satte 35 Prozent der deutschen Männer zwischen 18 und 35 Jahren es völlig in Ordnung finden, in einer Beziehung körperliche Gewalt anzuwenden. Grusel-Influencer wie Andrew Tate (36, Ex-Gefängnisinsasse wegen Vergewaltigung und Frauenhandels) finden mit krudem Frauenhass – «Frauen gehören Männern» – Millionen von Anhängern. Internetforen sogenannter Incels (Involutary Celibates, unfreiwillig Zölibatäre, also junge Männer, die gerne Sex hätten, es nicht schaffen, welchen zu kriegen, und deshalb in fanatischen Frauenhass verfallen) haben Zulauf.
Gleichzeitig steigt die Anzahl der Frauen, die ihre Eier einfrieren lassen, um die Phase ihrer Fruchtbarkeit zu verlängern, seit Jahren an. Und dies gemäss medizinischem Fachpersonal nicht, weil die Frauen zuerst Karriere machen wollen, sondern weil sie schlicht keinen passenden Partner für die rechtzeitige Familienplanung finden.
Sei stark! Sei schwach! Sei kein Macho! Sei keine Heulsuse!
Was ist also nur mit den Männern los? Markus Theunert (50), Psychologe und Experte für Männerfragen, weiss es: «Viele Männer sind komplett verunsichert, weil die Gesellschaft zunehmend auch an sie widersprüchliche und nicht erfüllbare Erwartungen stellt.» In der Psychologie nennt man solche Situationen «Double Bind», Doppelbindung. Es bedeutet: Was man auch tut, man tut es falsch.
Frauen können davon bekanntlich ein Lied singen. Nur, sagt Theunert, gehe es in der heutigen Gesellschaft auch den Männern nicht gut. Ihr «Double Bind» heisse: «Sei stark! Schaffe es endlich, Schwäche zu zeigen!» Theunert kann auf Nachfrage gleich einen ganzen Schwall widersprüchlicher Anforderungen herunterrattern, denen junge Männer heutzutage ausgesetzt sind: «Zeige Stärke, Härte, Führungskraft, Souveränität, sei kontrolliert, habe alles im Griff, bring Leistung, mach Karriere, erreiche etwas, sei ein Kämpfer, sei ein Gewinner, nimm dir, was du brauchst, sei keine Heulsuse, sei vielseitig interessiert, habe eine gute Allgemeinbildung, sei mit deinem gestählten Körper allzeit potent!» Und auf der Gegenseite: «Sei einfühlsam, rücksichtsvoll, empathisch, schaue gut zu dir selbst, nimm dir nicht einfach, was du willst, sei unabhängig von anderen, sei nicht von deinem Sexualtrieb kontrolliert, nimm deine eigenen Gefühle wahr, habe deine Work-Life-Balance im Griff, sitz nicht die ganze Zeit im Büro, sei da als Vater.»
Die gesellschaftliche Realität stimmt nicht mit den Erwartungen überein
Kurz gesagt: Sind sie «stark», sind sie ein Macho und potenzieller Vergewaltiger. Zeigen sie aber Schwäche, gelten sie als verweichlichte Heulsusen. Kommt hinzu, dass die gesellschaftlichen Realitäten nicht dem entsprechen, was von Männern heute alles erwartet wird: Abgesehen von Bildern auf Instagram braucht es körperliche Stärke beispielsweise weniger als früher, da es weniger Jobs gibt, die diese erfordern. Auch der traditionell männliche Fokus auf Hierarchie, Leistung, Konkurrenz und Status funktioniert weniger gut als früher: Auch Männer müssen heute teamfähig sein, kommunizieren können, Empathie zeigen können. Versuchen sie das dann aber wirklich, zum Beispiel, wenn sie Väter werden, werden sie leicht als unmännlich abgestempelt. Oder die wirtschaftliche Realität ist einfach anders: Diverse Studien ergeben, dass Teilzeitarbeit für Männer und in typischen Männerberufen rar gesät ist und Männer diskriminiert werden, wenn sie nach Teilzeitarbeit fragen.
Plötzlich funktionieren auch die Rollenverhältnisse, mit denen sie aufgewachsen sind, nicht mehr, sagt Theunert: «Männer erwarten traditionellerweise von Frauen, dass diese sie physisch und emotional umsorgen.» Sie seien so aufgewachsen: «Die Mutter war zu Hause, der Vater meist abwesend und für Familienbelange nicht zuständig.» Diese traditionelle Rollenverteilung funktioniert aber in der heutigen Wirtschaftswelt nicht mehr: Die realen Löhne sind in der Schweiz heute viel tiefer als in den 1960er-Jahren, die Kaufkraft des Mittelstands schwindet. Das Gehalt eines traditionellen «Ernährers» reicht oft nicht mehr, um eine Familie durchzubringen. Und viele Frauen haben auch keine Lust mehr, die Hausfrauenrolle zu übernehmen und neben ihren Kindern auch ihren Mann umsorgen zu müssen – und verdienen lieber selbst ihr eigenes Geld.
Theunert nennt es beim Namen: «Was wir erleben, ist eine Kumulation von Anforderungen, bei Männern und Frauen, die dazu führt, dass beide Geschlechter überfordert und zutiefst verunsichert sind. Es wird Unvereinbares verlangt und gleichzeitig so getan, als sei dies überhaupt kein Problem.»
Gleichberechtigte(re) Gesellschaften sind reicher
Diese gesellschaftlichen Erwartungen schlagen sich auch bei Männern in messbaren Zahlen nieder: Essstörungen wie Anorexie unter jungen Männern steigen. Männer sterben dreimal häufiger durch Suizid als Frauen, sind aber nur halb so häufig in Behandlung wegen Depressionen. Bei Männern sei diese Überforderung auch ein zentraler Faktor für Radikalisierungstendenzen, sagt Theunert. Die Verunsicherung von Männern wird gezielt von Rechtsaussen-Gruppierungen ausgenutzt. So gehen etwa die rechtsextremen Proud Boys aktiv auf Incel-Foren Mitglieder rekrutieren. Und sieht man etwa die Wahlen in Hessen und Bayern an, dann wählen viele junge Männer AfD. In der Schweiz hat die SVP Zulauf.
Und gemäss aktuellen Umfragen bei jungen deutschen Männern lehnt ein Viertel in der Altersgruppe der 18- bis 35-Jährigen die Gleichstellung der Geschlechter ab. In allen älteren Generationen finden sich 80 bis 90 Prozent Zustimmung bei der Frage, ob Gleichberechtigung für eine Gesellschaft «gut» sei. Es scheint also eine Generation junger Männer heranzuwachsen, die geschlechterpolitisch weniger fortschrittlich ist als ihre Grossväter. Und ausserdem steigt diese Tendenz. Es gibt einen gesellschaftlichen Backlash gegen die Gleichberechtigung.
Dies ganz einfach, sagt Theunert, wegen der Unfähigkeit der Männer, sich mit männlichen Privilegien auseinanderzusetzen und ihre Vormachtstellung aufzugeben. Auch wenn die ganze Gesellschaft, auch der männliche Teil davon, dadurch verliert. Denn das tut sie: Länder mit grosser Diskriminierung gegenüber Frauen sind ärmer, meist sogar sehr viel ärmer, als Länder mit grösserer Gleichstellung (einzige Ausnahmen: Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate wegen ihrer Ölindustrie).
Das Zauberwort: Fühlen
Was also nun tun mit dem Wissen, dass die Gesellschaft von beiden Geschlechtern Widersprüchliches und Unerfüllbares verlangt und es deshalb allen schlechter geht? Wie ganz konkret jungen Männern im Umgang mit Frauen helfen? Eine Anfrage bei feministen.ch hilft nicht wirklich weiter: Aktivist Timo Jost findet konkrete Tipps eher kontraproduktiv und appelliert an Männer, Zugang zu ihren Gefühlen zu finden, um besser kommunizieren zu können, wer was wie empfindet – also eigentlich, eine Fähigkeit zu entwickeln, die Männern in ihrer Kindheit und Jugend von der Gesellschaft sozusagen abtrainiert wurde.
Er verweist wiederum auf Markus Theunert – und hier erfolgt der oben erwähnte Lesetipp: In seinem Buch «Jungs, wir schaffen das» bietet er konkrete Anleitungen, wie Männer überhaupt wieder Zugang zu dem finden, was in ihnen eigentlich geschieht. Kann man diese Gefühle erkennen und benennen, können sie als Inspirationsquelle dienen, um in Gesprächen in einer Beziehung etwas zum Besseren zu wenden – anstatt den eigenen Gefühlen einfach ausgeliefert zu sein.