Wenn die Kleinen die Erwachsenenrolle übernehmen müssen
Kinder von depressiven Eltern leiden mit

Ist in der Familie jemand psychisch erkrankt, leiden die Angehörigen mit. Wie gross ist die Last für Kinder, wenn ein Elternteil depressiv ist?
Publiziert: 03.11.2020 um 06:53 Uhr
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Aktualisiert: 02.12.2020 um 09:04 Uhr
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Kinder von Eltern mit psychischen Erkrankungen leiden oftmals mit ihren Eltern.
Foto: Getty Images/Westend61
Vanessa Büchel

«Ich war heute gemein zu Mama und habe Angst, dass sie sich jetzt umbringt», das hat Andrea* (27) mit zehn Jahren in ihr Tagebuch geschrieben. Die heute 27-Jährige ist mit ihrer Mutter Elisabeth* gross geworden, die unter einer schweren Depression litt und sich darum nicht richtig um sie kümmern konnte.

Immer wieder sagte Andreas Mama, dass die Familie ohne sie doch besser dran wäre. Geplagt von Suizidgedanken durchlebte Elisabeth Hochs und Tiefs, wurde von Dämonen heimgesucht, die sie plagten und nicht losliessen.

Für Andrea war es unverständlich, warum ihre Mama nicht mit ihr spielen wollte, wie es die Mütter ihrer Freundinnen doch taten. Sie konnte nicht nachvollziehen, warum sie nur selten in den Arm genommen wurde, warum die Mutter ständig weinte und schnell laut wurde. Als sie noch klein war, erklärte ihr niemand genau, was los war. «Dein Mami ist schwer krank», hiess es nur immer. Dann drücke ich sie ganz doll, bis sie wieder gesund ist, dachte sich Andrea. Doch das wollte ihre Mama nicht.

Kinder entwickeln Schuldgefühle

Vielen Kindern geht es wie Andrea. Schätzungen zufolge soll es in der Schweiz etwa 50'000 Kinder geben, die mit einem Elternteil leben, der an einer schweren psychischen Erkrankung leidet. Sind Mama oder Papa depressiv, entfallen sie als sichere Basis. Eine schwierige Lage für die Kleinen, die unterschiedlich damit umgehen.

«Kinder haben ganz feine Antennen. Sie merken schnell, dass sich etwas verändert hat oder in der Familie etwas nicht stimmt», erklärt Dr. med. Angelo Bernardon (46) BLICK. Bernardon ist Klinikleiter und Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrischen Dienste Aargau.

Darum sei es ganz wichtig, den Kleinen die Situation altersgerecht zu erklären. «Für Kinder ist es wichtig, dass es für die Situation eine Erklärung gibt», so der Chefarzt. Denn sonst kann es passieren, dass sich Kinder die Schuld für die Veränderung geben. «Sie suchen eine Erklärung und fragen sich: ‹Liegt das an mir?› Das tun Erwachsenen ja gelegentlich auch, wenn sie das Verhalten des Gegenübers nicht deuten können.»

Wenn Kindern nicht erklärt wird, was genau los ist, verstehen diese nicht, warum ihre Eltern öfter traurig oder gereizter sind. Es kann zu Schuldgefühlen kommen.

Kinder übernehmen Aufgaben der Eltern

Was ebenfalls häufig bei Kindern von Eltern mit psychischen Erkrankungen vorkommt, ist die sogenannte Parentifizierung. «Die Kinder beginnen, Aufgaben der Erwachsenen zu übernehmen und verhalten sich sehr angepasst. Dadurch wollen sie Irritationen vermeiden und verhindern, dass es ihren Eltern noch schlechter geht», weiss Bernardon. Kinder sind dann ganz vorsichtig und zurückhaltend, übernehmen Pflichten der Eltern, die diese nicht mehr ausüben können, wie der Chefarzt beschreibt: «Sie tun mehr als sonst üblich wäre für ihr Alter.»

Die Belastung kann sich bei den Kindern in verschiedenen Formen zeigen: «Sie leiden sehr mit, wenn es ihren Eltern schlecht geht und werden ebenfalls traurig.» Die Kinder ziehen sich dann zurück, können sich in der Schule schlechter konzentrieren oder meiden soziale Kontakte.

Das sind laut Bernardon aber zwei extreme Beispiele von Verhaltensweisen, die sich zeigen. «Manche Kinder zeigen in diesen Situationen keine sichtbaren Auffälligkeiten.»

Kinder könnten später auch selbst erkranken

Wenn Eltern an einer Depression erkrankt sind, ist das Risiko höher, dass die Kinder später auch einmal erkranken, was laut Bernardon mehrere Studien zeigen.

«Auf der einen Seite sind es die biologischen Einflüsse und auf der anderen Seite spielen die psychosozialen Belastungsfaktoren eine grosse Rolle», sagt der Chefarzt. In Familien mit schweren und länger dauernden Erkrankungen kann es häufiger zu Konflikten oder auch Trennungssituationen für die Kinder durch Klinik-Aufenthalte der Erwachsenen kommen. Solche Familien leben mitunter auch isoliert, weil soziale Aktivitäten stark eingeschränkt sind.

«Depressive Eltern wollen auch für ihre Kinder da sein»

Wie können Aussenstehende betroffenen Familien helfen? «Ein wichtiger unterstützender Punkt ist die Motivation dazu, sich Hilfe zu suchen», führt Bernardon aus. Habe man einen guten Kontakt zur Familie, sei es wichtig, die Person, die erkrankt ist, darin zu unterstützen, sich Hilfe zu suchen.

Denn ganz wichtig: Kinder sind keine Therapeuten. Es ist von grosser Bedeutung, dass sie realisieren, dass ihren Eltern geholfen wird, und sie diese Aufgabe nicht übernehmen müssen.

Unterstützung für betroffene Kinder

Die Fachstelle für Angehörige der Psychiatrischen Dienste Aargau AG (PDAG) (Kontakt: Telefon 056 462 24 61, E-Mail angehoerige@pdag.ch) bietet zur Entlastung und Unterstützung eine spezifische altersgerechte Beratung an. Die Unterstützung gilt für Kinder mit psychisch erkranktem Elternteil, Geschwister oder einer erkrankten Bezugsperson.

Dr. med. Angelo Bernardon ist Klinikleiter und Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und Experte für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Bernardon betont: «Kinder von kranken Eltern sind in erster Linie keine Patienten. Sie leiden vielleicht unter der Situation, aber sind nicht automatisch krank.» Darum sei es auch so wichtig, eine altersgerechte Beratung anzubieten. Dort wird die Situation gemeinsam analysiert, um sie für die Kinder greifbar zu machen.

Mit den Kindern wird auf konkrete Fragen sowie Ängste eingegangen und Zukunftsperspektiven werden besprochen. Sie sollen nicht in die Situation geraten, sich für das Leiden des Elternteils verantwortlich zu fühlen. «Es ist ganz wichtig, dass sie verstehen, dass sie mit dem Problem nicht alleine sind und darüber sprechen dürfen», so der Chefarzt.

Angelo Bernardon, Chefarzt.
pdag.ch

Die Fachstelle für Angehörige der Psychiatrischen Dienste Aargau AG (PDAG) (Kontakt: Telefon 056 462 24 61, E-Mail angehoerige@pdag.ch) bietet zur Entlastung und Unterstützung eine spezifische altersgerechte Beratung an. Die Unterstützung gilt für Kinder mit psychisch erkranktem Elternteil, Geschwister oder einer erkrankten Bezugsperson.

Dr. med. Angelo Bernardon ist Klinikleiter und Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und Experte für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Bernardon betont: «Kinder von kranken Eltern sind in erster Linie keine Patienten. Sie leiden vielleicht unter der Situation, aber sind nicht automatisch krank.» Darum sei es auch so wichtig, eine altersgerechte Beratung anzubieten. Dort wird die Situation gemeinsam analysiert, um sie für die Kinder greifbar zu machen.

Mit den Kindern wird auf konkrete Fragen sowie Ängste eingegangen und Zukunftsperspektiven werden besprochen. Sie sollen nicht in die Situation geraten, sich für das Leiden des Elternteils verantwortlich zu fühlen. «Es ist ganz wichtig, dass sie verstehen, dass sie mit dem Problem nicht alleine sind und darüber sprechen dürfen», so der Chefarzt.

Aussenstehende können den betroffenen Eltern Hilfe im Alltag anbieten. «Es muss mit den Eltern gut abgesprochen werden, wenn man eine Aufgabe in der Tagesstruktur übernehmen will», sagt Bernardon. Denn auch Eltern mit psychischen Erkrankungen wollen für ihre Kinder da sein und mit ihnen Zeit verbringen. Sie wollen für ihre Kinder gute und liebevolle Eltern sein.

Kein Happy End für Andrea

Für Andrea ging die Geschichte mit ihrer depressiven Mutter nicht gut aus. Elisabeth nahm sich das Leben, als die Tochter 19 war. «Nach dem langen Kampf und den Auf und Abs war es ein bitterer Schicksalsschlag», so Andrea. Sie hätte auch als Jugendliche noch fest am kindlichen Irrglauben festgehalten, dass alles gut wird, wenn sie ihrem Mami nur eine dicke Umarmung schenkt. Doch das reichte nicht.

Andrea betont, dass sie zwar nicht die beste, aber dennoch eine glückliche Kindheit hatte. Auch wenn Elisabeth nicht immer richtig da sein konnte, liebte die Tochter ihre Mutter über alles. Und Andrea wusste trotz allem, dass es auch umgekehrt so war.

Manchmal hätte sich Andrea mehr Unterstützung von ihrem Vater oder ihren Grosseltern gewünscht, aber sie hat es auch so geschafft. Vor allem hat sie ihre Kindheit stark gemacht und ihr beigebracht, früh für sich selbst zu sorgen. «Es ist nicht alles düster schwarz, man muss auch die bunten Aspekte sehen», sagt Andrea nachdenklich.

* Namen der Familienmitglieder wurden geändert.

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