«Die Maske gibt dem Virus ein Gesicht»
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Verhaltensforscher Messner:«Die Maske gibt dem Virus ein Gesicht»

Verhaltensforscher Claude Messner
«Die Maske gibt dem Virus ein Gesicht»

Verhaltensforscher Claude Messner (49) von der Universität Bern untersucht, warum Menschen tun, was sie tun. Und weiss, warum wir auch mal zu etwas gezwungen werden müssen – zum Maskentragen im ÖV zum Beispiel.
Publiziert: 18.07.2020 um 13:56 Uhr
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Aktualisiert: 20.07.2020 um 17:16 Uhr
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ÖV-Passagiere in Genf. Seit 6. Juli ist das Tragen einer Maske im ÖV in der Schweiz Pflicht.
Foto: keystone-sda.ch
Interview: Jonas Dreyfus

SonntagsBlick: Herr Messner, seit rund zwei Wochen müssen Schweizer im ÖV Masken tragen. Was halten Sie davon?
Claude Messner:
Es war ein kluger Entscheid, die Pflicht einzuführen. Das Problem an der Bedrohung durch Covid-19 ist ja, dass man das Virus nicht sieht. Man kennt zwar die Bilder aus überfüllten Intensivstationen und beobachtet die Fallzahlen. Trotzdem bleibt das Virus für den Einzelnen abstrakt.

Und deshalb hat es mit der Freiwilligkeit nicht geklappt?
Ja, denn das Tragen einer Maske schützt uns zwar – aber vor etwas, das «nur» eventuell eintreffen könnte. Es ist schwierig, mit diesem Argument Verhalten ändern zu wollen. Das ist, wie wenn man jemanden davon überzeugen will, sich gesünder zu ernähren, indem man ihm sagt: «Wenn du es nicht tust, könntest du in 20 Jahren gesundheitliche Probleme kriegen.»

Warum ist das kein gutes Argument?
Weil es in den Augen der betroffenen Person im Moment nur Unannehmlichkeiten mit sich bringt, wenn sie statt ihres geliebten Gipfelis am Morgen plötzlich eine Frucht essen muss.

Wie kann diese Person ihr Verhalten überhaupt ändern?
Indem sie zum Beispiel darauf achtet, welche Früchte im Mund wie schmecken, um Präferenzen zu entwickeln. Wenn man einen Geschmack mag, ist das eine unmittelbare Belohnung, die einen dazu motivieren kann, regelmässig in einen Apfel zu beissen. Beim Tragen einer Maske funktioniert das nicht – das ist einfach nur mühsam. Deshalb müssen wir wohl oder übel dazu gezwungen werden.

Fühlen Sie sich mit Maske im ÖV sicherer?
Ich fahre meistens Velo. Aber ich war in Deutschland mit dem Zug unterwegs, wo die Maskenpflicht schon seit längerem gilt. Ich fand die Situation eher unheimlich.

Weshalb?
Weil sie mich gnadenlos daran erinnerte, dass wir uns gerade in einer Pandemie befinden. In der Schweiz konnte man das ja gut verdrängen. Und gerade das ist das Geschickte daran, die Maske jetzt vorzuschreiben: Sie schützt nicht nur vor Ansteckungen, sondern gibt dem Virus ein Gesicht. Das kann uns davon abhalten, bei den Vorsichtsmassnahmen nachlässig zu werden. Auch an Orten, an denen wir keine tragen müssen.

Warum können wir zu Corona-Zeiten oft nicht nachvollziehen, warum andere sich anders verhalten als wir selbst?
Weil wir unterschiedliche Motive verfolgen. In der Zeit der Corona-Epidemie wechseln diese sehr schnell. Als wir zu Beginn der Pandemie eine grosse Bedrohung spürten, waren wir von uns aus vorsichtig. Unser Motiv war, die eigene Gesundheit zu bewahren und andere nicht zu schädigen. Doch bald wurden andere Motive wieder stärker. Soziale Kontakte zu pflegen zum Beispiel.

Viele ältere Schweizer können überhaupt nicht verstehen, dass Club-Gänger nicht mal ein bisschen zu Hause bleiben können.
Auch wenn ich es nicht unterstütze, kann ich absolut nachvollziehen, dass junge Menschen jetzt trotzdem ausgehen wollen. Sie müssen schliesslich noch Partnerschaften finden und sich vermehren. Wer bereits liiert ist und eine Familie hat, kann viel besser auf das Nachtleben verzichten.

Für viele ist es dennoch schwierig vorstellbar, wie jemand eine Party geniessen kann, wenn er damit rechnen muss, unwissend an einem Superspreader-Event teilzunehmen.
Im Fachjargon nennt man diesen Mechanismus Informationsvermeidung. Das heisst, dass ich alle Infos ausblende, die mich davon abbringen könnten, mein Ziel zu erreichen. Wenn mein Ziel ist, Spass zu haben und soziale Kontakte zu pflegen, passt es mir gar nicht, wenn ich plötzlich eine Maske sehe oder mich am Eingang eines Clubs registrieren muss. Dann schreibe ich halt Donald Duck auf die Liste.

Es gibt auch Fälle, in denen jemand Hinweise auf eine mögliche Ansteckung mit Corona ignoriert.
Vielleicht lässt sich das mit Personen vergleichen, die riskanten Geschlechtsverkehr hatten und bewusst keinen HIV-Test machen, weil sie wüssten, dass sie ihr Leben bei einem positiven Resultat verändern müssten. Dasselbe lässt sich auch auf die Corona-App übertragen.

Wie meinen Sie das?
Ich kann mir vorstellen, dass viele Menschen die App nicht benutzen, weil sie gar nicht erst wissen wollen, dass sie sich länger als 15 Minuten in der Nähe einer coronapositiven Person aufgehalten haben. Vor allem nicht, wenn gerade Ferien bevorstehen.

Das klingt so, als würden wir unser Verhalten nur ändern, wenn wir unmittelbar davon profitieren oder dazu gezwungen werden.
Das stimmt nicht ganz. Man kann sich bewusst und freiwillig dafür entscheiden, ein anderes Motiv zu verfolgen als dasjenige, was für einen im Moment am angenehmsten ist. Indem man sich zum Beispiel überlegt, welches übergeordnete Ziel man verfolgt.

Was heisst das konkret?
Das Tragen der Masken und das Verwenden der App fallen leichter, wenn man sich vergegenwärtigt, warum wir das tun sollten: Weil es einen zweiten Lockdown verhindern kann, der fürs private und berufliche Leben gravierend ist. Der Staat nimmt diese Einschränkungen ja auch nur in Kauf, weil sonst Personen sterben würden, die sonst nicht sterben würden.

Sie sind spezialisiert auf Konsumverhalten. Welchen Einfluss hat die Pandemie darauf?
Grossen Einfluss hat der Umstand, dass wir wegen der Abstandsregeln und den Platzbeschränkungen mehr anstehen und im Allgemeinen mehr warten müssen.

Konsumieren wir deshalb weniger?
Nicht unbedingt. Wir überlegen uns einfach genauer, was wir konsumieren, wenn wir dafür anstehen müssen. Und weil Anstehen mühsam ist, müssen wir uns einreden, dass uns ein Produkt mehr Wert ist, als es das normalerweise wäre.

Heisst das: Je länger ich auf ein Produkt warten muss, desto grösser ist mein Verlangen danach?
Genau. So funktioniert das jeden Herbst, wenn es wieder heisst, dass sich der Release des neuen iPhones verzögert. Manche Marken machen sich das zunutze, indem sie die Erhältlichkeit ihrer Produkte künstlich verschlechtern. Oder sie tricksen mit der sogenannten «Low-Balling Technique». Das heisst so viel wie Tiefschlagtechnik. Sie wurde kürzlich bei mir selbst angewandt.

Was war passiert?
Ich habe bei einem grossen Online-Anbieter eine Webcam bestellt. Davor habe ich recherchiert, welche ich haben möchte, und eine gewählt, die in kurzer Zeit lieferbar ist. Nach der Bestellung erhielt ich ein E-Mail mit der Info, dass das Produkt doch erst sehr viel später lieferbar ist. Weil ich mich bereits für ein Modell entschieden hatte, war ich eher bereit, lange darauf zu warten.

Ist das legal?
Absolut. Es steht ja immer «Lieferzeiten ohne Gewähr». Die chaotischen Zustände, die zu Beginn des Lockdowns beim Onlineshopping herrschten, haben solche zweifelhafte Techniken begünstigt.

Welchen Produkteherstellern hat das coronabedingte Anstehen und Warten am meisten genützt?
Tendenziell den Herstellern von teureren Produkten, die man nicht sofort braucht. Güter des alltäglichen Bedarfs müssen hingegen schnell verfügbar sein. Für eine Tube Zahnpasta oder ein Glas Senf wollen die wenigsten stundenlang anstehen. Darauf warten auch nicht.

Welche anderen Beobachtungen haben Sie während der Pandemie gemacht?
Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, die man zum Beispiel mit dem Tragen von bestimmter Kleidung ausdrückt, funktioniert in Zeiten von Social Distancing nur bedingt, weil man sich schlichtweg weniger sieht. Damit fehlt uns ein wichtiges Mittel, mit dem wir uns auszudrücken können.

Warum ist dieses Mittel wichtig?
Ich ziehe mich ja nicht nur an, um nicht zu frieren oder um nicht nackt zu sein, sondern um zu zeigen, wie ich ticke und welche Wertvorstellungen ich habe. So können andere Personen sehen, dass sie mir ähnlich sind. Dass wir mit Kleidung Zugehörigkeit ausdrücken, ist keine komische Gesellschaftskrankheit, sondern sinnvoll, um unsere Identität zu definieren. Das funktioniert auch umgekehrt.

Wie denn?
Wenn man will, dass Menschen ihre Identität vorübergehend aufgeben, nimmt man ihnen die Kleidung weg. Deshalb tragen Häftlinge in Guantanamo einheitliche Overalls und Militärangehörige Uniformen.

Ist eine Pandemie für einen Verhaltensforscher eine besonders spannende Zeit?
Bei meinen Söhnen, sie sind neun und zwölf, habe ich in den vergangenen Monaten einen grossen Entwicklungsschub beobachtet. Sie mussten sich zu helfen wissen, haben den Umgang mit Videounterricht gelernt und sind generell selbständiger geworden. Klar ist das eine spannende Beobachtung. Ich hätte trotzdem lieber auf die Pandemie verzichtet.

Mann fürs Verhalten

Professor Claude Messner (49) leitet am Institut für Marketing und Unternehmensführung der Universität Bern seit 2011 die Abteilung Consumer Behavior. Der Verhaltensforscher mit Spezialgebiet Konsumverhalten wuchs in Süddeutschland auf, studierte Psychologie in Konstanz, arbeitete an der Universität Heidelberg und promovierte an der Universität Basel. Messner wohnt mit seiner Frau und zwei Söhnen im Berner Monbijou-Quartier. In seiner Freizeit gärtnert er gerne und tanzt zeitgenössischen Tanz.

Professor Claude Messner (49) leitet am Institut für Marketing und Unternehmensführung der Universität Bern seit 2011 die Abteilung Consumer Behavior. Der Verhaltensforscher mit Spezialgebiet Konsumverhalten wuchs in Süddeutschland auf, studierte Psychologie in Konstanz, arbeitete an der Universität Heidelberg und promovierte an der Universität Basel. Messner wohnt mit seiner Frau und zwei Söhnen im Berner Monbijou-Quartier. In seiner Freizeit gärtnert er gerne und tanzt zeitgenössischen Tanz.

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