Nach der Hochwasserkatastrophe in Deutschland sind jetzt die Aufräumarbeiten in vollem Gange. Doch statt mit anzupacken, kommen viele Menschen nur, um den Schaden zu begaffen. Sie bringen Kaffee und Kuchen mit, behindern die Einsatzkräfte und wollen sich teilweise sogar gewaltsam Zutritt zum abgesperrten Gelände verschaffen.
Auch in der Schweiz filmten viele Menschen das Hochwasser. Immer wieder versammeln sich Schaulustige auch an Autounfallstellen oder beobachten andere gefährliche Situationen. Wieso tun wir das?
Laut dem Kriminologen Dirk Baier (45) liegt es an einem zutiefst menschlichen Gefühl: der Neugier. «Gerade aufsehenerregende Ereignisse ziehen uns in den Bann.»
Das ist grundsätzlich nichts Negatives. Durch Beobachten lernt der Mensch. Beobachtet er jemanden, der in Gefahr gerät, lernt er, nicht denselben Fehler zu machen. Das nennt sich in der Wissenschaft «stellvertretendes Lernen». Gemäss der Wissenschaft können wir uns gegen instinktives Hinsehen kaum wehren.
Gaffen kann Menschenleben gefährden
Doch Menschen, die an Unfallstellen verweilen oder Katastrophen filmen, gehen einen Schritt weiter. Dort kann das Gaffen Rettungskräfte behindern – und damit Menschenleben gefährden.
Viele Gaffer wissen dabei, dass sie sich falsch verhalten. Doch im Rudel fühlen sie sich gedeckt. Studien zeigen, dass das Schuldgefühl einzelner abnimmt, wenn die Menschen um sie herum dasselbe tun. Baier appelliert an die Zivilcourage derjenigen, die eine Katastrophe mitbekommen: «Wenn man beispielsweise bei einem Verkehrsunfall nicht helfen kann, soll man den Ort zügig verlassen und andere Gaffer dazu auffordern, dasselbe zu tun.»
Problematisch sei dieses Verhalten nicht nur, weil man sich vom Leid anderer unterhalten lasse, sagt Baier. Viele filmen die Opfer und stellen die Videos nachher ins Netz. «Sie verletzen so Persönlichkeitsrechte», sagt der Kriminologe.
Adrenalin-Junkies lieben Unfälle
Gaffen ist nichts Neues. Vor hundert Jahren habe es sogar noch mehr Schaulustige gegeben als heute, so Roland Portmann, Kommunikationsleiter von Schutz & Rettung 2018 in der «NZZ». Egal, ob vor Ort oder heutzutage über die sozialen Medien – Gaffer brauchen Action.
Psychologe Michael Thiel (61) sagt gegenüber dem deutschen Wissensmagazin «Quartz», manchen Menschen würde so schnell langweilig, dass sie ständig Adrenalinschübe bräuchten. «Ein realer Unfall, wo Menschen zu Schaden gekommen sind, ist für einen Adrenalin-Junkie unvergleichbar», so Thiel. Wichtig wäre es in dieser Situation, sich an eine andere, ebenfalls menschliche Regung zu erinnern: Mitgefühl.