Gerichtspsychiater erklärt den Boom
Was macht True Crime mit unserer Psyche, Herr Urbaniok?

Ob als Podcast, als Serie oder als Buch: Wahre Verbrechen sind der letzte Schrei. Gerichtspsychiater Frank Urbaniok über die Faszination am Bösen, das romantisierte Bild von Tätern, die vergessenen Opfer – und darüber, ob der Konsum von True Crime uns abstumpft.
Publiziert: 08.04.2025 um 12:58 Uhr
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Aktualisiert: 08.04.2025 um 13:26 Uhr
Nach einer schweren Krebserkrankung ist Forensiker Frank Urbaniok wieder topfit. «Es grenzt an ein Wunder», sagt er in seiner Praxis in Freienbach SZ.
Foto: Nik Hunger

Darum gehts

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Jessica Pfister
Schweizer Illustrierte

Die Praxis von Frank Urbaniok (62) auf einem Industrieareal in Freienbach SZ ist nicht einfach zu finden. «Ich mag diese Anonymität – auch weil einige meiner Kunden prominent sind», sagt der bekannteste Gerichtspsychiater der Schweiz. In der Praxis mit hellen Räumen und weissen Ohrsesseln empfängt der gebürtige Kölner Patienten und berät Unternehmen und Führungspersonen. Häufig wird der ehemalige Leiter des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Zürcher Justizvollzugs bei besonders schweren Kriminalfällen hinzugezogen – wie etwa für die Untersuchung des Tötungsdelikts im letzten Sommer in Basel, als ein verurteilter Doppelmörder auf begleitetem Freigang eine 75-jährige Frau getötet haben soll.

Herr Urbaniok, schauen oder hören Sie selber True Crime?
Ich habe in meinem Beruf schon so viel mit wahren Verbrechen zu tun, dass ich das Thema nicht noch privat suche (schmunzelt). Hin und wieder kommt es aber schon vor – vorausgesetzt, das Format ist gut gemacht und der Fall gut aufgearbeitet.

Zum Beispiel?
Etwa ein Podcast von der BBC über die verbrannte Leiche einer Frau im norwegischen Isdal. Oder die Netflix-Miniserie «American Murderer» über Laci Peterson, die im achten Schwangerschaftsmonat verschwand und vier Monate später tot aufgefunden wurde. Das Gericht verurteilte ihren Ehemann. Das fand ich sehr interessant, auch weil ich ähnliche Fälle aus meiner Arbeit kenne.

True Crime hilft Ihnen bei Ihrer Arbeit?
In Einzelfällen ja. Meist konsumiere ich True Crime aber als Unterhaltung – etwa «Narcos» über die kolumbianischen Drogenkartelle. Ich fand das einfach toll gemacht, mit grossartigen Schauspielern.

Artikel aus der «Schweizer Illustrierten»

Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.

Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.

True-Crime-Formate sind so populär wie noch nie. Egal ob als Serien, Magazine oder Podcasts – in den Charts sind sie überall in den Top Ten. Warum sind wahre Verbrechen der letzte Schrei?
Es gibt mehrere Gründe. Zum einen interessieren wir uns rein evolutionär für das Böse. Wenn jemand aus der eigenen Familie von einem Löwen gefressen wurde, wollte man verstehen, wie es dazu kam. Das Grundinteresse an bedrohlichen, aussergewöhnlichen Ereignissen sehen wir auch bei Flugzeugabstürzen oder Erdbeben. Zum anderen faszinieren bei True Crime die zwischenmenschlichen Beziehungen. Konsumentinnen und Konsumenten sehen das ganze Spektrum von menschlichen Verhaltensweisen.

Was macht es mit unserer Psyche, wenn wir solche Formate anschauen?
Wir durchleben verschiedene Emotionen: Grusel, Angst, Trauer, Mitleid. Aus sicherer Entfernung kann Angst auch ein Thrill sein. Weil True Crimes ja wahre Verbrechen sind, haben sie eine höhere Authentizität, sprich, sie rücken dem Menschen näher.

Besteht nicht die Gefahr, dass Leute, die viel True Crime konsumieren, – emotional abstumpfen – oder andersrum gar ängstlicher werden?
Nein, das glaube ich nicht. Die meisten Menschen können gut zwischen dem realen Leben und einem Podcast oder einer Serie unterscheiden.

Was halten Sie vom Bild der Täterinnen und Täter, das True Crime vermittelt? Häufig handelt es sich dabei ja um Serienmörder.
Es gibt tatsächlich unglaublich viele Serien oder Podcasts über Serienmörder. Angefangen hat der Hype durch die Interviews des FBI mit Serienmördern im Gefängnis wie etwa Ted Bundy. Wenn irgendetwas nicht repräsentativ für die richtige Kriminalität ist, sind das Serienmörder. Sie sind die rare Ausnahme von der Masse. Zudem wird gerade bei Serien oder Filmen für eine bessere Dramatik oft noch an den Figuren geschraubt. Sehen Sie Hannibal Lecter in «Das Schweigen der Lämmer» an: Da wurden True-Crime-Fälle vermischt, und der Täter wurde zum hochintelligenten und spannenden Gesprächspartner emporgeschrieben. Klar gibt es die vielschichtigen, faszinierenden Täter – sie sind aber selten.

Wie ist es denn wirklich?
Ich beschäftige mich nun seit 33 Jahren mit Kriminalität und habe Tausende Fälle gesehen. Kriminalität hat für mich nichts Faszinierendes. Sie ist meistens sehr profan – und fürchterlich. Auch die Gründe für eine Tat sind profan: Geld, Lust an Gewalt oder der Gedanke, dass «er oder sie es verdient hat».

Auf Social Media werden Täter als düstere Stars gefeiert und glorifiziert. Ist das ein Problem?
Man sieht das auch im Bereich von Attentätern oder Amokläufern an Schulen. Die Täter kriegen einen fast perversen Kultstatus. Wie gesagt: Die meisten Konsumentinnen können das gut einordnen. Wenige andere verwirrte Geister können eine Obsession dafür entwickeln. Das ist gefährlich und für die Opfer natürlich fürchterlich.

Der deutsch-schweizerische Psychiater, Professor und Autor war von 1997 bis 2018 Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürich. Urbaniok ist für die Entwicklung des Fotres-Systems zur Risikobeurteilung von Straftätern bekannt. Er ist verheiratet mit einer Baslerin und hat zwei erwachsene Söhne.
Foto: Nik Hunger

Herausstechend beim Publikum von True-Crime-Formaten: Frauen sind in der Überzahl. Je nach Statistik und Umfrage sind zwischen 60 und 80 Prozent der Konsumenten von True Crime weiblich. Warum?
Es gibt da zwei Theorien. Frauen interessieren sich grundsätzlich mehr für Psychologie, menschliche Themen und Abgründe. Da ist sicher etwas dran. Die andere Theorie besagt, dass Frauen sich anhand von True Crime aus sicherer Distanz auf die eigene Gefahrensituation vorbereiten. Frauen sind ja leider öfter Opfer von Sexualstraftaten oder Familientötungen.

Sie haben zig Gewalttäter und Gewalttäterinnen therapiert. Was macht der True-Crime-Hype eigentlich mit den Tätern?
Ich habe nicht erlebt, dass dies einen Effekt auf die Täter hat. Die Rechtfertigungen für ihre Taten sind eher persönlicher Natur.

Also können True Crime keine weiteren Taten begünstigen – etwa Nachahmungstäter?
Für 99,9 Prozent der Menschen nicht. Es ist ähnlich wie mit Kriegs- oder Ego-Shooter-Spielen. Die meisten können das abstrahieren. Sie kommen nicht erst durch den Konsum von Shooter-Games auf Gewaltideen, die Bereitschaft zur Gewalt war sowieso schon da. Deshalb konsumieren sie auch gezielt solche Produkte.

Sie selber haben ebenfalls in einem True-Crime-Podcast mitgemacht. In «Hinter der Tat» sprechen Sie über Fälle, die sie selber begleitet haben – etwa den Attentäter von Zug, über den Sie ein Gutachten erstellt haben. Warum machen Sie das?
Viele haben falsche Vorstellungen von Straftaten. Ich weiss, wie unterschiedlich und facettenreich Kriminalität ist, und wollte aufzeigen, dass hinter den Kulissen einiges anders ist, als man denkt. Für mich geht es dabei um Aufklärung. Ich muss ja nicht ermitteln, Spuren suchen und den Täter fassen. Sondern verstehen, warum eine Person die Tat begangen hat. Hier wollte ich Einblicke geben.

Finden Sie es nicht problematisch, dass in vielen True-Crime-Formaten der Fokus auf den Täterinnen und Tätern liegt – und nicht auf den Opfern?
Ich finde es legitim, um eine Tat zu verstehen. Allerdings fördert der Fokus auf den Täter eine Tendenz, die unsere Gesellschaft sowieso schon hat: Die Opfer werden häufig vergessen. Das ist nicht nur ein Problem bei True Crime, sondern bei der Berichterstattung über Kriminalfälle generell. Ich habe mit vielen Opfern zu tun gehabt. Da ist es oft so, dass sich die Leute anfangs für ihr Schicksal interessieren, man Mitleid hat – aber nach ein paar Wochen heisst es dann auch: Jetzt ist gut. In meinem aktuellen Buch gibts ein Kapitel über einen Arzt, der im deutschen Offenburg von einem abgewiesenen Asylbewerber erstochen wurde. Ich habe der Witwe das Kapitel zum Lesen gegeben. Auf ihren Wunsch habe ich noch ein paar Zitate von ihr eingebaut. Sie sagte mir, dass nicht nur sie, sondern auch Polizisten und alle, die in den Fall involviert waren, mit schrecklichen Bildern und traumatischen Erfahrungen weiterleben müssen. Dieser Aspekt geht leider oft vergessen. Dabei ist eine Gesellschaft, die sich solidarisch mit den Opfern erklärt, eine gesündere Gesellschaft.

Welche Wirkung haben True-Crime-Dokumentationen auf die Opfer?
Meiner Erfahrung nach werden die wenigsten Opfer dadurch wieder traumatisiert. Zum Teil interessieren sie sich sogar für True Crime, weil sie sehen, dass sie nicht die Einzigen sind, oder sie die Beweggründe für eine Tat verstehen wollen.

Sie haben tagtäglich mit True Crime zu tun. Wie gehen Sie damit um?
Viele haben das Gefühl, ich sähe nur Horror und hätte einen rabenschwarzen Job. Das ist nicht der Fall. Ich erlebe viele positive Geschichten. Etwa Straftäter, die seit 20 Jahren nicht rückfällig geworden sind, obwohl es am Anfang nicht gut aussah. Das ist eine Freude. Hinzu kommt, dass mich Kriminalfälle nach wie vor sehr interessieren. Ich gehe da wie ein Chirurg vor oder wie beim Lösen eines Puzzles, sehr technisch.

Und das hinterlässt keine Spuren?
Da bin ich nicht sicher. Durch den sehr nüchternen Blick auf all die vielen Fälle ist mir schon sehr bewusst, wozu Menschen fähig sind.

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