Blick testet den Rage Room in Weinfelden TG
2:20
Aggressionen abbauen:Blick testet den Rage Room in Weinfelden TG

«Es sind schon Tränen geflossen» – Psychotherapeut erklärt
Wieso Menschen Geld zahlen, um Sachen kaputtzumachen

Hemmungslos Sachen kaputtmachen – das ist in einem Wutraum möglich. Rage Rooms etablieren sich in der Schweiz, um Dampf abzulassen. Ein Psychotherapeut erklärt die Hintergründe von Wut und Aggression.
Publiziert: 14.09.2024 um 00:03 Uhr
|
Aktualisiert: 26.09.2024 um 14:18 Uhr
1/5
Daniel Gerkens ist Psychotherapeut und besucht den Rage Room mit seinen Patienten.
Foto: zVg

Auf einen Blick

Die Zusammenfassung von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast.
RMS_Portrait_AUTOR_484.JPG
Olivia RuffinerRedaktorin

Ganz nach dem Motto «Mach kaputt, was dich kaputtmacht» wird das Konzept von Rage Rooms in der Schweiz immer beliebter. In diesen Wuträumen können Menschen mithilfe von Baseballschläger und Vorschlaghammer Elektrogeräte, Möbel und Altglas zertrümmern. Alltagsfrust, Anspannung und Aggressionen zerfallen in Scherben und Trümmer.

Ein Blick in die Agenda des Rage Rooms in Frauenfeld TG zeigt die steigende Nachfrage: Sie sind bis Ende Dezember ausgebucht. Auch der ehemalige Rage Room in Winterthur ZH verzeichnete gemäss Inhaber Daniel Widmer eine hohe Anzahl an Besucherinnen und Besuchern, sogar aus den Nachbarländern. Rund 15 Tonnen an zertrümmertem Material landeten pro Monat im Container. Mitte September eröffnet er einen neuen Rage Room in Weinfelden TG.

Dampf ablassen – das tut gut. Widmer meint, er habe sogar wiederkehrende Gäste. Doch einmal pro Woche den Wutraum besuchen, ist das wirklich gesund? Für solche Fälle arbeitet Widmer mit dem Psychotherapeuten Daniel Gerkens zusammen. Dieser bindet den Rage Room manchmal in seine Therapiesitzungen mit ein.

«Wut hat etwas Therapeutisches», sagt Gerkens. Das Metallrohr, mit dem du die Waschmaschine zertrümmerst, ist dabei bloss ein Ventil. Wenn sich jemand ärgert, staut sich Adrenalin im Körper. Mit emotionsregulierenden Massnahmen kann dies abgebaut werden – sei das durch Sport, Sex, das Zertrümmern von Mikrowellen oder Kreativität. Dem Psychotherapeuten sind Rage Rooms bereits seit längerem ein Begriff, er hatte selbst einmal einen kleineren in Betrieb.

Nicht für jeden geeignet

In seiner neuen Praxis fehlt dafür der Platz, dafür hat er nun Widmers Wuträume. Nicht für jeden sei das die angemessene therapeutische Massnahme, meint Gerkens. Beispielsweise betreut er einen Patienten, der alles mit seiner Ratio im Kopf ausarbeitet. «Mit ihm würde ich nie in einen Rage Room gehen», sagt Gerkens. Der Patient hat davon herzlich wenig, da er keinen Bezug dazu hat. In einem solchen Fall arbeitet der Psychotherapeut unter anderem mit einem Whiteboard, auf dem er die Zusammenhänge der Gefühle und Gedanken mit dem Patienten visuell erarbeitet.

1/5
Im Farbraum kann man sich kreativ austoben.
Foto: Olivia Ruffiner

Wieder ein anderer Patient spricht gut darauf an, einmal so richtig Dampf abzulassen. Eine wiederkehrende Strategie sei es aber nicht, irgendwann muss man sich mit der Ursache der Emotionen befassen. «Kurzfristig kann ein Rage Room Abhilfe schaffen», meint Gerkens. Ein Rage Room bietet den sicheren Rahmen, seine Emotionen freizulassen. Nachdem das Adrenalin draussen ist, kann man seine Situation reflektieren und die Energie in etwas Konstruktives verwandeln. Das sind meistens Momente, in denen sich dann etwas löst. Inhaber Widmer sagt: «Es sind schon Tränen geflossen.»

Frauen hauen gleich drauf wie Männer

Zwischen den Geschlechtern beobachten Widmer und Gerkens nur einen kleinen Unterschied. Zwar sind Frauen zunächst eher zögerlich beim Kaputtmachen. Nach und nach holen sie mit dem Schläger aber genauso schwungvoll aus wie Männer und lassen ihn mit Freude auf die leere Weinflasche sausen. Immerhin: 70 Prozent der Kundschaft von Widmer sind Frauen.

«Unsere Gesellschaft verortet Aggressionen eher als eine männliche Eigenschaft, Frauen haben daher weniger rasch den Zugang zu ihrer Wut», sagt Gerkens. Sobald sie aber in einem sicheren Rahmen sind, in dem sie diesen Zugang finden und ausleben dürfen, setzen sie sich auch mit dieser Emotion mehr auseinander. Gemäss einer repräsentativen Umfrage des britischen Fernsehsenders BBC steigt der Anteil an wütenden Frauen global an. In 150 Ländern, darunter auch in der Schweiz, gab im Jahr 2012 jede fünfte Frau an, am Vortag wütend gewesen zu sein. Zehn Jahre später war es schon jede vierte. Interessanterweise verhält sich der Anteil an wütenden Männern in dieser Zeitspanne gleichbleibend bei jedem fünften Mann.

«Die Emotion Aggression hat zwei Seiten», erklärt Gerkens. «Eine konstruktive und eine destruktive.» Beide – also die förderliche wie auch die zerstörerische Seite – gehören zum Menschsein. «Viele haben vor der destruktiven Aggression Angst, besonders Frauen», sagt er weiter. Sich aber davor zu verstecken, ist nicht die Lösung. Rage Rooms, Sport oder andere Formen des Ausdrucks sind ein erster Schritt für die Emotionsregulierung. Reflexion, Nachbearbeitung und Coaching oder Therapie dann der nächste. «Am Ende des Tages hat jede und jeder die Wahl, wie er oder sie mit seiner respektive ihrer Wut umgeht», sagt Gerkens.

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?