Darum gehts
- Narzissten erhalten Diagnose bei anderen Abklärungen, nicht aus Eigeninitiative
- Narzissmus oft nicht schambehaftet, Patient sieht Diagnose als Erleichterung
- Für Stefan K. ist jede Beziehung eine Kosten-Nutzen-Frage
- Der einzige Mensch, der wirklich zählt für ihn: sein Kind
Kommt ein Narzisst zum Therapeuten, um sich auf Narzissmus abklären zu lassen … dann ist das der Anfang eines Jokes. Denn: «Narzissten kommen niemals, um sich auf eine narzisstische Persönlichkeitsstörung abklären zu lassen», sagt Dina Pereira, Ärztin bei den Psychiatrischen Diensten Aargau (PDAG). «Sie erhalten die Diagnose immer im Zuge anderer Abklärungen.»
So auch ihr Patient Stefan K. (44). 2022 begibt er sich erstmals in Behandlung, seine Ehe liegt in Scherben, im Job schiebt er «Zehn- bis Vierzehn-Stunden-Schichten, auch am Wochenende». Zum Runterfahren kippt er Alkohol. Die Symptome sind eindeutig, die Diagnose kommt rasch: Burnout, dazu kommen Panikattacken. Stefan K. begibt sich in Behandlung, drei Wochen stationär, danach ambulant.
Für Stefan K. ist die Diagnose nicht schambehaftet
Im Laufe der Therapie fällt Dina Pereira auf, dass Stefan K. sich in seinen sozialen Beziehungen und auch im Gespräch mit ihr immer wieder auf eine bestimmte Weise verhält. Dabei zeigen sich Denkmuster und Verhaltensweisen, die auf eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hinweisen. Um diese abzuklären, führt sie eine strukturierte psychiatrische Untersuchung durch, die den Verdacht bestätigt.
Die Diagnose beschreibt Stefan K. als Erleichterung – weil sie ihm vieles erklärt –, ansonsten hat sie keinen grossen Einfluss auf ihn. Seine Kollegen seien erstaunt gewesen, schliesslich sei er ein durchaus hilfsbereiter Zeitgenosse, seine Ex-Frau hingegen habe mit einem einzigen Wort reagiert: «Ja.»
Jede andere Diagnose sei mit Scham behaftet, sagt Dina Pereira. «Narzissmus ist es nicht.» Dass Stefan K. für diesen Bericht anonymisiert wird, geschieht zum Schutz seines Kindes. «Ich selbst hätte kein Problem damit, mich zu zeigen.» Auch therapieren lässt er sich nur deshalb, weil es eine Auflage des Gerichts ist, damit er Kontakt zum Kind haben darf. Seine Ärztin merkt zwar an, dass er inzwischen ein hohes Engagement und Commitment in die Therapie einbringe. Doch Stefan K. meint: «Sobald ich nicht mehr muss, bin ich hier raus.»
Jede Beziehung ist eine Kosten-Nutzen-Frage
Denn der Leidensdruck, den es braucht, um sich therapieren zu lassen, ist nicht seiner. Es ist der seines Umfeldes. «Mir ist bewusst, dass ich andere Menschen kränke», sagt Stefan K. Er tue das nicht, weil er Freude daran habe. «Das ist eines der meist verbreiteten Vorurteile», so Pereira. «Narzissten verletzen andere nicht absichtlich, doch sie zeigen wenig Mitgefühl und übernehmen keine Verantwortung für die Gefühle anderer.» Oder wie Stefan K. es ausdrückt: «Es ist ja nicht mein Problem, wenn jemand sich wegen mir verletzt fühlt.»
Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung liegt auf einem Spektrum, erklärt Narzissmus-Experte Marc Walter. Der Gradmesser von leichten Symptomen hin zur schweren Persönlichkeitsstörung ist dabei die abnehmende Empathie. Dazu kommen Symptome wie eine grandiose Selbstwahrnehmung und fehlende Kritikfähigkeit. «Ich bin von mir und meinem Intellekt überzeugt, gebe in Diskussionen niemals nach und habe immer das letzte Wort», sagt Stefan K.
Der Basler ist gross, charmant, eloquent. Er kommt gut an, nicht nur beim anderen Geschlecht, auch bei Kollegen und Geschäftspartnern. Er zitiert gern Philosophen, Nietzsche und Co. haben ihn geprägt, sagt er. Wenn er jemanden kennenlernt, provoziert er erst mal. «An der Reaktion merke ich, wo jemand angreifbar ist. So kann ich ihn oder sie manipulieren.» Er findet das nichts Schlechtes. Und: «Ich mache grundsätzlich nichts, was mir nicht in der einen oder anderen Weise etwas bringt.» Andere existieren nur in Relation zu ihm selbst – eine Kosten-Nutzen-Frage: Wer ihm nichts nützt, interessiert ihn nicht.
Stefan K.s Kind: «Der einzige Mensch, der mich wirklich interessiert»
Das gilt auch – und insbesondere – für die, die ihm am nächsten stehen. Eine Beziehung funktioniert so lange, wie er davon auf irgendeiner Ebene profitiert. Was nicht bedeutet, dass er keine Liebe empfindet. Nur ist diese abhängig von gewissen Faktoren. Und: «Selbstliebe ist immer noch die wichtigste Liebe. Oder fast.»
Das «fast» ist Stefan K.s Kind im Primarschulalter. «Mein Genpool, mein Spiegelbild, der einzige Mensch, der mich wirklich interessiert. Mein Kind ist mir wichtiger als ich mir selbst.» Fürs Kind ist er auch bereit, sich «hin und wieder zu verstellen», wie er sagt. Sprich, sich so anzupassen, dass er andere nicht ganz so heftig vor den Kopf stösst. Auch wenn Zurückhaltung so gar nicht sein Ding ist. «Ich meine, wenn ich nicht überzeugt bin von mir selbst – wer dann?»