Vor 100 Jahren brach eine Grippepandemie aus, die aufgrund ihrer Zahlen mit der Pest von 1348 vergleichbar ist, als rund ein Drittel der eurpäischen Bevölkerung starb. Heute weiss man zwar viel mehr über das Virus, welches 1918 zwischen schätzungsweise 50 Millionen Menschen das Leben kostete; die Grauzahl ist gross, weil die Datenlage unklar ist. So gibt es immer noch zahlreiche offene Fragen, wie der Pathologe Heffrey Taubenberger vom «US National Institute of Allergy and Infectious Diseases» kürzlich auf einer Pressekonferenz erklärte. Taubenberger veröffentliche 2005 gemeinsam mit seiner Kollegin Ann Reid die genetische Sequenz des für die Pandemie verantwortlichen Virus.
Der Name «Spanische Grippe» ist darauf zurückzuführen, dass die ersten Nachrichten über die Pandemie aus Spanien kamen. Das Land galt während des Ersten Weltkriegs als neutral, weshalb weniger Nachrichten zensiert wurden. Im Gegensatz zu anderen betroffenen Ländern wurden die Berichte über Krankheitsfälle nicht unterdrückt und so meldeten Nachrichtenagenturen im Mai 1918, dass in ganz Spanien rund acht Millionen Menschen erkrankt seien - in Madrid sogar jeder Dritte. Die Infrastruktur brach zusammen, Büros und Geschäfte wurden geschlossen und der öffentliche Verkehr wurde eingestellt. Unter den Erkrankten waren auch der spanische König Alfons XIII. und einige seiner Kabinettsmitglieder.
20- bis 40-Jährige besonders betroffen
Eines der prominentesten Opfer der Pandemie war der österreichische Künstler Egon Schiele, der im Oktober 1918 nur wenige Tage nach seiner schwangeren Frau Edith im Alter von 28 Jahren starb. Krank und traurig malte er in den letzten Tagen seines Lebens am Bild «The Family». Das unvollendete Bild zeigt eine Familie - so, wie er sie nie haben sollte. Heute gilt das Bild als ergreifendes Zeugnis für die Grausamkeit der Krankheit.
Das Ungewöhnliche am Virus war, dass nicht wie beim «normalen» Influenza-Virus vor allem die Schwächsten, also ältere Menschen und Kinder, betroffen waren, sondern Menschen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Zudem waren Männer stärker gefährdet als Frauen - ausser wenn diese schwanger waren. Bis heute wissen Forschende nicht genau, warum vor allem Menschen der vermeintlich «resistentesten» Altersgruppe betroffen waren. Ein möglicher Hinweis liegt in der Tatsache, dass während der Pandemie von 1918 weniger ältere Menschen starben, als in den Grippesaisons des letzten Jahrzents.
Warum waren vor allem junge Menschen betroffen?
Dazu gibt es bereits verschiedene Thesen. Eine davon lautet dahingehend, dass das Immunsystem einer Person seine effektivste Reaktion gegen den ersten Grippestamm, auf den es trifft, aufbaut. Doch Grippe ist ein hoch labiles Virus, wodurch es seine Struktur ständig ändern kann - einschliesslich der beiden Hauptantigene auf seiner Oberfläche, die unter der Abkürzung H und N bekannt sind und mit dem Immunsystem des Wirts in Kontakt kommen.
Es gibt verschiedene Hinweise darauf, dass 1918 das erste Grippetypus H3N8 war. Aus diesem Grund seien die Körper auf ein ganz anderes Grippetypus vorbereitet gewesen als den Subtyp des H1N1, der die Pandemie auslöste. Forschende gehen davon aus, dass ältere Menschen vor den H1- oder N1-Antigenen geschützt waren, da diese bereits 1830 in der Bevölkerung zirkulierten. Varianten des Subtypus H1N1 versursachten 1977/78 den Ausbruch der «Russischen Grippe» und 2009 jenen der «Schweinegrippe».
Unterschiede innerhalb der Städte
In gewissen Teilen Asiens und Afrikas war die Wahrscheinlichkeit zu sterben 30 Mal höher als in bestimmten Teilen Europas. Die beiden Kontinente litten unter den höchsten Sterberaten. Im Vergleich dazu, war die Sterberate in Europa, Nordamerika und Australien am niedrigsten. Es gab allerdings grosse Unterschiede innerhalb der Kontinente: Während Dänemark 0,4 Prozent der Bevölkerung verlor, waren es in Ungarn rund dreimal so viel. Städte waren stärker betroffen als ländliche Gebiete, doch auch innerhalb der Städte gab es signifikante Unterschiede.
Überall auf der Welt waren Arme, Einwanderer bzw. Einwanderinnen und ethnische Minderheiten stärker betroffen, weil sie eher schlecht assen, die Hygiene schlechter war und mehr Menschen auf engerem Raum zusammenlebten. Zudem war der Zugang zur Gesundheitsversorgung erschwert. Im Zuge dessen organisierten viele Länder ihre Gesundheitsministerien neu, indem sie u.a. bessere Systeme zur Krankheitsüberwachung einrichteten. Die Pandemie offenbarte eine Wahrheit: Obwohl viel mehr Arme und Einwanderer bzw. Einwanderinnen starben, war niemand immun. So wurden Infektionskrankheiten als Problem auf Bevölkerungsebene anerkannt. Ab den 1920er Jahren begann sich dieser Wandel im Gesundheitswesen betroffener Staaten niederzuschlagen.