Auf einen Blick
Schlapp und energielos. So fühlen sich viele Menschen in der Schweiz, wie Zahlen der CSS-Gesundheitsstudie von 2024 belegen. Fast 70 Prozent der Befragten gaben an, unter Müdigkeit und Erschöpfung zu leiden. Eine bemerkenswerte Zahl. Ist chronische Müdigkeit die neue Volkskrankheit? Wir haben Neuroimmunologe Adrian-Minh Schumacher (38) gefragt, was es damit auf sich hat.
Er hat bis Ende letzten Jahres in der Fatigueambulanz am Universitätsspital Zürich gearbeitet und forscht aktuell am Amsterdam University Medical Center zum chronischen Müdigkeitssyndrom. Müdigkeit komme als Begleitsymptom bei extrem vielen Beschwerden und Krankheiten vor, sagt Schumacher. «In Hausarztpraxen gehört es zu den Top 10 Symptomen, unter denen Menschen leiden.»
17'000 bis 34'000 Betroffene schweizweit
Wahrscheinlich hat jeder schon mal Phasen durchlebt, in denen er sich energielos und müde gefühlt hat. Bei manchen Personen kann die Müdigkeit auf einen Vitamin- und Nährstoffmangel zurückgeführt werden, bei anderen ist ein Schlaf- oder Bewegungsmangel die Ursache. Dass in der CSS-Studie so viele Menschen angegeben haben, unter Müdigkeit zu leiden, überrascht also nicht.
In gewissen Fällen gehen Müdigkeit und Erschöpfung aber über ein normales Mass hinaus. Dann spricht man gemäss Experte vom chronischen Müdigkeitssyndrom – auch bekannt als Fatigue oder chronisches Erschöpfungssyndrom. Fachleute gehen von etwa 17'000 bis 34'000 betroffenen Menschen in der Schweiz aus. Wie hebt sich dieses Krankheitsbild von ähnlichen Beschwerden ab?
Nicht einmal Schlaf bringt Erholung
Es gebe Hauptsymptome, die das chronische Müdigkeitssyndrom von anderen Krankheiten wie Depressionen unterscheiden, sagt Schumacher. «Die Müdigkeit ist so stark, dass die Betroffenen die Arbeitszeiten und sozialen Kontakte reduzieren müssen, obwohl sie eigentlich Motivation und Lust haben, Dinge zu unternehmen.» Ausserdem fühlen sich Betroffene selbst nach ausreichend Schlaf nicht erholt. Ein Spaziergang sowie emotionale und geistige Anstrengungen führen zu einer extremen Erschöpfung, die für mehrere Tage im Bett auskuriert werden muss.
Eine Diagnose zu stellen, sei schwierig, sagt der Experte. «Beim chronischen Müdigkeitssyndrom handelt es sich um eine Ausschlussdiagnose.» Das heisst, Ärztinnen und Ärzte stellen die Diagnose, nachdem sie andere infrage kommende Erkrankungen ausgeschlossen haben. Im Fall von Müdigkeit könnten das ein chronischer Eisenmangel oder eine Schilddrüsenfehlfunktion sein. Wenn die spezifischen Diagnosekriterien erfüllt sind und keine andere Krankheit vorliegt, die die starke Müdigkeit verursacht, gehen Fachleute vom chronischen Müdigkeitssyndrom aus.
Häufig trete die Krankheit aber nach viralen Infekten auf, sagt Schumacher. Auch Operationen, Unfälle, Tumorbehandlungen und starke psychische Belastungen könnten das chronische Müdigkeitssyndrom auslösen. «Aber die Ursachen sind noch nicht abschliessend geklärt und werden weiterhin erforscht.»
Schwierig, zu behandeln
Da hinsichtlich der Ursachen noch weitere Forschung nötig ist, gibt es bisher keine allgemeingültige Behandlung für das chronische Erschöpfungssyndrom. «Wir können zurzeit lediglich die Symptome der Betroffenen lindern und damit ihre Lebensqualität verbessern», so der Experte. Gegen Schmerzen und Schlafstörungen helfen Schmerz- und Schlafmittel. Eine Ergotherapie wirke oft unterstützend. Die Betroffenen können dabei lernen, auf die Signale ihres Körpers zu achten. Dadurch erkennen sie frühzeitig, wann die Erschöpfung zunimmt, und können ihre Energie entsprechend einteilen.
Schumacher erklärt: «Müdigkeit ist in der Bevölkerung ein weit verbreitetes Phänomen, aber nicht jede Müdigkeit ist chronisch». Eine Infektion gehe immer mit einer langen Erholungsphase einher, weshalb man sich nicht zu früh Sorgen machen müsse. Wenn man jedoch den Alltag nicht mehr wie gewohnt bewältigen könne, sei ärztlicher Rat sinnvoll.