Glaubt man den Befürwortern des elektronischen Patientendossiers (EPD), hat dessen Einführung nur Vorteile. Das Problem: Kaum jemand will es. Rund 25'000 Versicherte haben bisher eine digitale Krankenakte angelegt. Geht es in diesem Tempo weiter, wird es 6000 Jahre dauern, bis in der Schweiz alle eine haben. SonntagsBlick wollte herausfinden, weshalb das so ist – und wagte den Selbstversuch. Die gute Nachricht: Erstellt ist das EPD verblüffend schnell. Dann aber wird es kompliziert.
Insgesamt buhlen sieben Anbieter um die Gunst der Nutzerinnen und Nutzer. Wir entscheiden uns für eine Registrierung bei der Post. Voraussetzung sind ein Laptop mit Internetverbindung, ein Handy, eine digitale Identität (Swiss ID) und der mit einem Chip versehene biometrische Schweizer Pass. Nur wenige Klicks, Sicherheitscodes und Selfies später sind wir drin – oder stehen, wie böse Zungen behaupten, auf dem «PDF-Friedhof».
Denn im jetzigen Zustand ist das EPD nicht viel mehr als ein digitaler Ordner, der mit Austrittsberichten, Laboranalysen oder Röntgenbildern gefüttert werden will. In unserem Dossier herrscht natürlich erst mal gähnende Leere. Also schreiben wir per E-Mail sämtliche Leistungserbringer an, die uns in der Vergangenheit medizinisch betreut haben.
Die Antworten lassen nicht lange auf sich warten. Die Radiologin schreibt: «Wir können Ihnen die Berichte und Bilder per A-Post an Ihre Wohnadresse senden.» Der Hausarzt: «Wir arbeiten momentan noch nicht mit dem EPD.» Die Augenärztin: «Leider habe ich keine Unterlagen. Sie waren das letzte Mal im 2006 bei uns. Der Augendruck wurde gemessen: 15 rechts und 15 links.» Und die Physiotherapeutin: «Sie sind der Erste, der danach fragt.»
Extrem unübersichtlich
Dann aber trudeln doch einige elektronische Dokumente ein – erstaunlicherweise teilweise unverschlüsselt. Je mehr PDFs wir hochladen, desto unübersichtlicher wird das EPD. Bald hat die Akte den Organisationsgrad eines Schreibtischs, auf dem monatelang nicht aufgeräumt wurde. Und dieses Chaos soll jetzt unser Gesundheitssystem revolutionieren?
Szenenwechsel ins Bundeshaus. Das Gesundheitswesen ist das grosse Thema der ersten Sessionswoche. Eine, die sich damit bestens auskennt, ist die Basler Nationalrätin Sarah Wyss (35). Sie sagt: «Das Parlament hat das EPD-Gesetz vor Inkrafttreten im Jahr 2017 verwässert. Jetzt stehen wir vor einem Scherbenhaufen.» Zu viele Zähne seien der Vorlage gezogen worden, zu viel beruhe nun auf Freiwilligkeit. Zudem, so Wyss, sei das Eröffnungsprozedere noch immer viel zu kompliziert. «Das schreckt die Leute ab!» Sie selbst habe den Vorgang nach zwei Stunden entnervt abgebrochen, plane aber demnächst einen erneuten Versuch.
Damit das EPD endlich zum Fliegen kommt, müssen möglichst viele Patientinnen und Patienten mitmachen. Wie in Österreich, wo 97 Prozent der Bevölkerung eine digitale Krankenakte besitzen.
Hoffnung macht Sarah Wyss die bevorstehende Revision des Bundesgesetzes über das elektronische Patientendossier, die sich bis Mitte Oktober in der Vernehmlassung befindet. Darin vorgesehen ist auch ein Opt-out-Modell. Das heisst: Jede und jeder bekommt automatisch ein EPD. Wer das nicht will, muss sich aktiv dagegen wehren.
Auch sollen künftig sämtliche medizinischen Fachkräfte zur Anwendung des EPD verpflichtet werden. Seit 2020 gilt dies eigentlich schon für den stationären Bereich, doch es harzt gewaltig: Gerade mal die Hälfte aller Spitäler hat sich an das EPD-System angeschlossen, von den Arztpraxen noch weniger (14 Prozent). Ebenfalls reichlich Aufholbedarf haben Pflegeheime (bisher 38 Prozent) und Apotheken (4 Prozent).
Viel Arbeit, kaum Nutzen
Von Leistungserbringern ist immer wieder zu hören: zu viel Arbeit, kaum Nutzen. Ein Praxisangestellter schreibt: «Das EPD ist für uns ein sehr grosser Aufwand. Wir haben momentan noch zu wenig Patienten, die ein EPD haben. Sobald wir merken, dass die Nachfrage grösser wird, werden wir uns natürlich auch beteiligen.»
In der kleinen Kammer fordert derweil Mitte-Ständerat Erich Ettlin (61) den Bundesrat in einem Vorstoss zur Prüfung der Frage auf, wie das elektronische Patientendossier schneller eine ausreichende Verbreitung erreichen kann. Die Regierung müsse hier – «top down» – ein Machtwort sprechen. Er verstehe nicht, weshalb man sich so viel Zeit nehmen wolle. Stand heute, rechne man mit einem tauglichen EPD bis 2026 oder 2027.
Dieses Drängen sei gar nicht nötig, erwidert SP-Gesundheitsminister Alain Berset (51), man sei ja nun auf Kurs. Und tatsächlich: Es tut sich etwas. Schon im Dezember soll der elektronische Impfausweis ins EPD integriert werden, im Juni 2024 folgt der E-Medikationsplan, begleitet von einer nationalen Sensibilisierungskampagne.
Mit 32 zu 1 Stimme wird Ettlins Postulat trotzdem überwiesen. Nach der gewonnenen Abstimmung sagt der Mitte-Ständerat: «Jetzt muss der Bundesrat die Führung übernehmen und dafür sorgen, dass die Vorlage nicht wieder zerredet wird.»
Rückendeckung bekommt Ettlin von der Wissenschaft. «Beim EPD geht es eindeutig zu langsam vorwärts», sagt Alfred Angerer (49), Professor für Gesundheitsökonomie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. «Der einzige Weg ist eine Opt-out-Lösung.» Die Schweiz, so Angerer, habe eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Damit das so bleibe, sei eine stetige Verbesserung der Versorgungsqualität vonnöten, zudem brauche es mehr Daten für die Forschung und kostendämpfende Massnahmen. Zu all dem trage das EPD bei. Man könne es mit einer Autobahn vergleichen. Die erfülle ihren Zweck auch nur, wenn sie durchgehend verläuft. Für Angerer ist klar: «Ohne Opt-out kein EPD.»
In der Wandelhalle zeigt eine Kurzumfrage: Vier von fünf Parlamentarierinnen haben noch kein elektronisches Patientendossier. Ein Vertreter der SVP fragt in der Mittagspause: «EPD? Helfen Sie mir rasch auf die Sprünge!» Sogar Erich Ettlin, jener Ständerat, der Alain Berset Beine macht, hat bislang darauf verzichtet. Er mache Druck, weil die derzeitige Lösung ungenügend sei, und er fordert: einfacheren Zugang, mehr Inhalt.
«Ich warte gespannt auf die Erfüllung dieser Bedingungen, um dann mit dem EPD zu starten.»