Auf einen Blick
Muskelkrafttraining hat im Leben vieler Menschen einen hohen Stellenwert. Es hält fit, verbessert die Körperhaltung und lindert Schmerzen – so lauten zumindest einige Versprechen der Fitness-Industrie. Auch der deutsche Orthopäde und Sportwissenschaftler Arvid Neumann (40) glaubte lange daran. Er war Leistungssportler, hat exzessiv Krafttraining gemacht und als diplomierter Sportlehrer gearbeitet.
Doch mit der Ausbildung zum Orthopäden und den zunehmenden wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Faszie änderte sich seine Einstellung gegenüber Krafttraining und dem einseitigen «Muskel-Blick» auf den menschlichen Körper. Zu ihm in die Praxis kamen Menschen, die regelmässig ins Fitnessstudio gingen und dennoch über Schmerzen klagten. «Du kannst jahrelang mit den besten Vorsätzen Sport machen, aber das schützt leider meist nicht vor Rücken- und Gelenkproblemen.»
Denn für ein langes, schmerzfreies und bewegliches Leben sei nicht die Muskulatur zentral, sondern die Faszie. Das ist ein dreidimensionales, körperweites Netzwerk aus weichen, kollagenhaltigen, lockeren und dichten Fasern des Bindegewebes, das von der Hautoberfläche bis in jeden Zellkern reicht. «Die Faszie beeinflusst als Organ der Form die Körperhaltung, das physische und seelische Wohlbefinden und wie wir uns bewegen», sagt Neumann. In seinem Buch «Die Fitness-Lüge» erklärt er das Wichtigste über die Faszie und deckt die vier grössten Probleme der Fitness-Industrie auf.
Falsche Belastung auf schlechte Körperstruktur führt zu Beschwerden
Gemäss Experte birgt intensives, auf Muskelaufbau fokussiertes Krafttraining das Risiko, dass man den Körper zu stark belastet, was wiederum zu Schmerzen führen kann – insbesondere bei Menschen mit einer schlechten Körperstruktur. Neumann nennt das Beispiel des nach vorne eingefallenen Brustkorbs und des Geierhalses, also wenn die Körpervorderseite verkürzt ist. Das komme häufig in Kombination mit einem nach vorne geschobenen Becken vor. «Allein die Schwerkraft wirkt belastend auf diese Fehlhaltungen, weil der Körper aus dem Lot ist. Kommt intensives Krafttraining hinzu, können noch mehr Verspannungen oder Schmerzen entstehen», so der Experte. Der Körper müsse zunächst zurück ins Lot gebracht werden, wieder in Balance sein.
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Immer gleiche Bewegungen sind kontraproduktiv
Im Fitnessstudio geht es vordergründig um den Muskelaufbau und um Muskelkraft. Dazu trainiert man pro Gerät meist nur einen Muskelbereich oder auch eine Muskelkette, indem man eine Bewegung mehrmals wiederholt. Gemäss Experte bringen diese isolierten Bewegungen keine Flexibilität und führen eher zu einem Bewegungsmangel als zu einem grossen Bewegungsrepertoire. Kraft, Stärke und Energie seien lebenslang bedeutsam, aber ganz viel Kraft könne aus der Faszie kommen, sagt Neumann. «Wir müssen bloss die elastischen Rückstellkräfte ausnutzen, indem wir loslassen und die Schwerkraft als Freundin nutzen». Der Experte nennt zum Vergleich ein in die Länge gezogenes Gummiband, das wieder in den Ausgangszustand zurückspringt. «Man muss nur eins tun, sowohl beim Gummiband als auch beim Menschen: Loslassen.»
An Kindern sei das gut zu beobachten: Obwohl sie nicht ins Fitnessstudio gehen, können sie bereits ziemlich viel Kraft aufbringen, wenn sie zum Beispiel wütend sind. Der Grund sei, dass sie die Kraft nicht nur aus dem Arm ziehen, sondern aus dem ganzen Körper. «Jede Bewegung sollte eine Ganzkörperbewegung sein, die mit maximaler Bewegungsqualität durchgeführt wird.» Die Art und Weise, wie man sich bewegt, sei für Geschmeidigkeit und Stärke enorm bedeutsam.
Dr. med. Arvid Neumann (40) ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und Sportwissenschaftler. Er war Chefarzt in einer Rehaklinik und hat eine eigene Praxis für Faszien-Orthopädie im deutschen Oberursel (Taunus). Sein Schwerpunkt ist eine manuelle Faszienbehandlung, mit der er Menschen hilft, Schmerzen langfristig zu lindern oder bestenfalls präventiv gar nicht zu bekommen. In seinem Buch «Die Fitness-Lüge» (2024, Dumont) erklärt Neumann, welche Bewegungsabläufe und Haltungen die Faszie unterstützen.
Dr. med. Arvid Neumann (40) ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und Sportwissenschaftler. Er war Chefarzt in einer Rehaklinik und hat eine eigene Praxis für Faszien-Orthopädie im deutschen Oberursel (Taunus). Sein Schwerpunkt ist eine manuelle Faszienbehandlung, mit der er Menschen hilft, Schmerzen langfristig zu lindern oder bestenfalls präventiv gar nicht zu bekommen. In seinem Buch «Die Fitness-Lüge» (2024, Dumont) erklärt Neumann, welche Bewegungsabläufe und Haltungen die Faszie unterstützen.
Eine Stunde Sport als Ausgleich ist illusorisch
Eine Stunde am Tag zu trainieren, um damit das viele Sitzen auszugleichen, sei illusorisch, sagt Neumann. «Die Faszie ist dynamisch und passt sich den ganzen Tag über den Belastungen an.» Das heisst, wir trainieren den Körper 24 Stunden lang. Viel wichtiger als diese eine Stunde Fitness sei deshalb die Bewegung im Alltag. «Wir können die Faszie stärken und zugleich flexibel halten, indem wir möglichst vielfältige Bewegungen in den Alltag integrieren.» Das Ziel: Hohe Qualität in der Einzelbewegung. Sei es beim Putzen, Kartoffelschälen oder Spielen mit den Kindern. Dazu müsse man wissen, wie man richtig steht, richtig geht, sich richtig hinsetzt und sich richtig bückt. Eine Kombination aus vielfältigen Sportarten wie Klettern, Tanzen, Springen oder Schwimmen sei ebenfalls förderlich. «Abwechslung ist die beste Routine», sagt Neumann.
Der idealisierte Körper ist ungesund
Flacher Bauch, definierte Arme und muskulöse Beine – wer auf diese Ideale hin trainiert, tut sich gemäss Experte nicht unbedingt etwas Gutes. «Aus optischer Sicht hat man mit einem Sixpack vielleicht etwas erreicht, aber aus funktioneller Sicht führt es zu erheblichen Einbussen.» Durch die Anspannung der Muskeln beim Krafttraining entstehe eine Festigkeit im Körper, die eine Bewegungsvielfalt und -eleganz erschwere. Insbesondere die Spannung im Bauchbereich habe enorme Auswirkungen auf die Körperstatik, auf Bewegungen von Armen und Beinen und selbst auf die Atmung. «Wer sich bis ins hohe Alter flexibel und mühelos bewegen will, braucht keine starre, sondern eine geschmeidige Körperstruktur», sagt Neumann. Mit diesem Ziel vor Augen mache Sport viel mehr Spass und sei kein Zwang mehr.