«Die beste Form deines Lebens in nur 28 Tagen». Klingt gut, oder? In den sozialen Medien tauchen vermehrt solche Versprechen auf – stets bei Videos zum Fitnesstrend «Wall Pilates», Wand-Pilates. In den Videos führt jeweils eine trainierte Frau anmutig durch leichte Übungen, während sie ihre Füsse oder ihren Rücken gegen eine Wand lehnt.
Die Videos faszinieren mich, auch nachdem ich sie Hunderte Male gesehen habe. Pilates sagt mir zu, es ist eine der wenigen Sportarten, bei der ich alle Muskeln bewusst wahrnehme – auch die, von denen ich nicht wusste, dass sie existieren. Pilates an der Wand erscheint mir da wie eine Revolution. Auch, weil allein auf der Plattform Tiktok 14 Millionen Videos dazu auffindbar sind.
Neu ist der Trend nicht. «Wall Pilates» gibt es schon seit Jahrzehnten. Zoé Rothwell, Leiterin des Azwell-Studios in Lutry VD, sagt: «Wand-Pilates ist Teil eines Systems, das in den 1920er-Jahren vom deutschen Sporttrainer Joseph Pilates entwickelt wurde.» Dieses umfasse vier Übungsstile, darunter auch solche an der Wand. «Heute hat sich die Praxis verwässert, die Teile haben sich vermischt und tauchen in der Lehrerausbildung nicht mehr explizit auf», sagt Rothwell.
Eine effektive und zugängliche Praxis
Tiktok und Sport-Apps haben also ein Konzept übernommen, das auf die Anfänge von Pilates zurückgeht: In seinem ursprünglichen Konzept beinhaltet Wand-Pilates etwa 20 Übungen. Einige davon eignen sich für das Ende einer Pilates-Stunde. Die Wand hilft, den Körper nochmals richtig auszurichten und die Sitzung ruhig abzuschliessen.
Das Konzept hat einige Vorteile. Rothwell: «Dank der Wand können wir ein besseres Gefühl für unseren Körper im Raum entwickeln.» Die Wand helfe uns, unsere Haltung besser einzuschätzen und zu wissen, wie wir stehen, ob wir nach rechts oder links geneigt sind und ob wir uns richtig strecken.
Das Ziel von Pilates ist es, ausgehend vom Zentrum der tiefen Bauchmuskulatur (auch «Core» genannt), unsere Atmung und Konzentration zu trainieren. Wand-Pilates stärke unsere Skelettmuskeln in Rücken, Schulterblättern und Becken, sagt Rothwell. Es helfe uns, unsere Körperhaltung wahrzunehmen und zu verstehen. Die Expertin betont, dass Übungen so leichter werden: «Zum Beispiel Liegestützen. An der Wand sind sie weniger anstrengend als am Boden.»
Richtige Ausführung ist entscheidend
Der Hype hat einige Apps hervorgebracht. «Better Me» zum Beispiel, mit mehr als drei Millionen Usern. Alex Attias, Gründer des Alex Pilates Studios in Lausanne VD, ist davon aber wenig überzeugt: «Die grundlegenden Aspekte von Pilates fehlen in den Übungen.» Doch zu den Grundversprechen von «Wall Pilates» – in 28 Tagen auf die Form des Lebens zu kommen – sagt er: «Das ist nicht gelogen. Schon nach zehn Pilates-Übungen spürt man eine Veränderung.» Hat die durchtrainierte Frau aus den Videos vielleicht doch die Wahrheit gesagt?
Attias betont, dass die richtige Ausführung und Regelmässigkeit zentral sind: «Traditionelle Übungen mögen wenig beeindruckend sein, aber sie sind langfristig effektiv und gehen in die Tiefenmuskulatur.»
Um den Unterschied zu den Übungen aus der App zu spüren, probiere ich echtes Wand-Pilates aus – direkt mit Alex Attias, der das seit 15 Jahren unterrichtet. Seine Übungen sind weder aufgeblasen noch fitnessorientiert. Ich liege auf dem Boden, lehne mich mit den Füssen gegen die Wand und strecke die Beine aus, während ich mein Becken in einer neutralen Position halte. Nach zehn Sekunden zittere ich. Attias muss mich daran erinnern, zu atmen. Kein Vergleich zu den netten Stretchings aus der App. Meine Bauchmuskeln brennen.
Ohne Anleitung geht es kaum
Virale Apps und soziale Netzwerke bieten Übungen mit geringem Effekt, kein echtes Pilates. Attias fasst zusammen: «Wand-Pilates kann effektiv sein. Wenn man mit einer App beginnen will, ist es wichtig, die richtigen Übungen auszuwählen.» Zudem müsse man sich am echten Pilates orientieren. Es sei empfehlenswert, Wand-Pilates erst mit einem Profi durchzugehen, um die Grundlagen zu lernen.
Zoé Rothwell sagt: «Jede Übung nützt gegen Bewegungsmangel. Es braucht nicht viel, um beweglich zu bleiben – auch wenn wir sie nicht perfekt ausführen.» Sie wendet ein, dass die Ausführung schwieriger Übungen einer App für Anfänger riskant ist: «Der Erfolg hängt stark von Körperhaltung, Alter und körperlicher Leistungsfähigkeit ab.»
Laut Rothwell könne man auf Basis eines Kurses mit Lehrer Pilates-Apps gut nutzen. Beides scheint also notwendig zu sein: Zuhause mit einer App trainieren und einen geführten Kurs besuchen. Hauptsache, das Becken ist dabei in neutraler Stellung.