«Strenge Ernährungsregeln der Eltern bringen den inneren Ernährungskompass des Kindes aus dem Gleichgewicht», sagt Familien-Ernährungsberaterin und Dreifach-Mutter Katharina Fantl. In jungen Jahren litt sie unter einer Essstörung. Heute setzt sie auf das Prinzip des intuitiven Essens und hat darüber ein Buch geschrieben: «Dein Kind isst besser, als du denkst».
Frau Fantl, Sie fordern ein Ende der Ernährungserziehung bei Kindern.
Katharina Fantl: Ja (lacht). Damit ist gemeint, dass Kinder auf ihre Bedürfnisse wie Hunger, Durst und Appetit achten und so lernen, wie Ernährung funktioniert – statt dass wir ihnen alles vorschreiben. Wir adressieren oft den Verstand: Iss das, das ist gut für dich, iss das nicht, das ist ungesund. Dabei ist das A und O einer gesunden Ernährung, dass man gut im Spüren und Fühlen ist.
Ein Beispiel bitte.
Ein Baby kommt auf die Welt, spürt, es hat Hunger – und begibt sich auf Nahrungssuche. Es dreht den Kopf weg, wenn es genug getrunken hat.
Verstanden. Aber ich will mein Kind doch trotzdem dazu bringen, dass es das Gemüse essen soll.
Wenn man Kindern das sehr oft sagt, dann gehen sie in einen Abwehrmechanismus und weigern sich, etwas Bestimmtes zu essen. Das andere Extrem ist, dass sie schon in der 1. Klasse die Znüni-Boxen der anderen Kinder bewerten und sagen: «Du hast einen Keks dabei? So etwas Ungesundes würde ich nie bekommen.»
Welche Folgen hat das?
Haben Sie schon einmal von Orthorexie gehört? Das ist die zwanghafte Beschäftigung mit gesundem Essen. Kinder, die darunter leiden, werden immer jünger. Wenn sie mit sieben Jahren lesen können, dann nehmen sie im Supermarkt ein Produkt in die Hand, studieren die Nährwerttabelle – und legen es zurück, wenn es Zucker enthält. Das ist schon eine Art Essstörung.
Eltern wollen ja nur das Beste für ihr Kind.
Klar. Bei Eltern werden viele Ängste geschürt – und das überträgt sich auf das Kind. Wenn der Kinderarzt bei einer der ersten Untersuchungen «Oh, das Gewicht ist ein bisschen unter dem Durchschnitt» sagt und das Kind sonst putzmunter und gesund ist, dann gehen bei den Eltern trotzdem die Alarmglocken los. Es kann sein, dass sie beim Schoppengeben versucht sind, das Kind zu animieren, noch mehr zu trinken, obwohl sein Bedarf gedeckt ist.
Und das führt dazu …
… dass das natürliche Sättigungsgefühl des Kindes verloren geht. Genau dadurch kann dann später Übergewicht entstehen, und die Eltern gehen zur Ernährungsberatung. Dann kommt es zu Verzichtsgefühlen, bestimmte Lebensmittel werden mit Scham gleichgesetzt. Sie sehen, ein Teufelskreis.
Wie kommen wir nun wieder zurück zur intuitiven Ernährung? Mein Kind soll also ab sofort immer und alles essen dürfen, was es möchte?
Mir ist wichtig, zu sagen: Der Ansatz soll nicht Laisser-faire sein, nach dem Motto «Mir ist alles egal». Kindern soll Vielfalt angeboten werden. Sie haben eine natürliche Neugier, die wir nicht mit Kontrolle hemmen sollten. Sie wollen unterschiedliche Dinge kennenlernen. Die einen früher, die anderen später. Es ist ein Glaubenssatz, dass die Kinder dann nur Pizza, Pasta und Pommes essen wollen.
Das kann ich mir nur schwer vorstellen.
Sicher gibt es diese wählerischen Phasen, in denen sich Kinder einseitig ernähren. Aber ganz ehrlich: Das ist auch nicht schlimm. Sie lernen in dieser Zeit so viel, dass sie sich beim Essen auf das konzentrieren, was ihnen gut bekommt.
Wie sieht es aus mit Süssigkeiten?
Manche Kinder entwickeln emotionales Essen. Sie greifen zu Schokolade, wenn sie traurig sind. Hier muss man schauen, was ist mit meinem Kind los, dass es nicht bedürfnisorientiert isst? Da stecken meist Gründe dahinter.
Süssigkeiten haben eine grosse Anziehung auf Kinder. Warum?
Zum einen ist die Muttermilch süss und fettig. Das ist mit einem guten Gefühl verknüpft. Zum anderen sind süsse Sachen in der Natur nicht giftig, was bedeutet, das ist gut für mich. Dazu zwei Dinge: Zucker wird gerade sehr verteufelt. Sicher gibt es Kinder, die zu viel Süsses essen und dann Krankheiten entwickeln. Doch da steckt oft der emotionale Anteil dahinter. Zweitens: In unserer Gesellschaft sind Süssigkeiten mit Belohnung oder Bestrafung verknüpft.
Katharina Fantl (42) ist (Ernährungs-)Coach, Trainerin und Mediatorin. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Julia Litschko hat sie einen Ratgeber zur Kinderernährung «Dein Kind isst besser, als du denkst» geschrieben. Die dreifache Mutter aus Deutschland lebt mit ihrem Mann seit 2009 in der Schweiz. Ihr Buch ist seit März im Handel erhältlich.
Katharina Fantl (42) ist (Ernährungs-)Coach, Trainerin und Mediatorin. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Julia Litschko hat sie einen Ratgeber zur Kinderernährung «Dein Kind isst besser, als du denkst» geschrieben. Die dreifache Mutter aus Deutschland lebt mit ihrem Mann seit 2009 in der Schweiz. Ihr Buch ist seit März im Handel erhältlich.
«Toll gemacht, dafür gibt es ein Gummibärchen»?
Genau. Wir heben Süssigkeiten auf ein riesiges Podest. Wir sagen: «Ausnahmsweise darfst du das heute haben.» Oder «Wenn du dich nicht benimmst, gibt es später kein Dessert.» Wir instrumentalisieren Süssigkeiten. Ich höre in meinen Coachings oft von Eltern, die ihre Kinder frei entscheiden lassen, dass das Kind das Dessert gar nicht aufgegessen oder das Glace zurückgegeben hat. Kinder können das, wenn sich nicht zu viele Verzichtsgefühle angestaut haben. Wir sind ihnen nicht hilflos ausgeliefert (lacht). Wenn wir Kinder von Süssigkeiten komplett fernhalten, sind es oft die, die beim Kindergeburtstag am Süssigkeitenbuffet essen, bis ihnen schlecht wird.
Wie sollen sich Eltern verhalten, die sich vegan oder vegetarisch ernähren?
Dafür habe ich keine Anleitung. Der eine Punkt hier ist der ethische Aspekt, wenn man zum Beispiel Massentierhaltung nicht unterstützen möchte. Dies ist natürlich ein absolut legitimes Argument. Auf der anderen Seite gibt es die Bedürfnisse des Kindes. Es ist ein Abwägen, das ins Familiengefüge passen muss. Kinder sollten nicht das Gefühl haben, ich enttäusche meine Eltern, wenn ich das jetzt esse.
Warum haben wir eigentlich so ein kompliziertes Verhältnis zum Essen?
Ich glaube, ein Grund ist, dass wir in einer sehr komplexen Welt leben. Wir haben einen hohen Perfektionsanspruch und Leistungsdruck. Schon allein in den Supermärkten ist die Auswahl schier unendlich. Diese Vielfalt überfordert, und man sucht nach Regeln und Orientierung. Wir haben ein Stück weit verlernt, bei uns zu sein.
Wo fangen ich nun am besten an, wenn ich die Ernährungsregeln in meinem Haus auf den Kopf stellen will?
Bei einem Neugeborenen ist es schön, zu sehen, wie viele Signale sie sendet. Achtsam und wachsam auf die Bedürfnisse des Kindes achten. Und ihm einen Vertrauensvorschuss geben: «Du bringst so viel mit, du entscheidest schon richtig.»
Und wenn die Kinder älter sind?
Hier kommen die Kinder häufig aus einem restriktiven Ansatz und sind in einem Verzicht-Hunger gefangen. Wenn man dann sagt, sie dürfen ab jetzt frei entscheiden, kommt die Phase der Überkompensation. Ich selbst habe das so gemacht.
Wie lief das ab?
Mein Grosser war damals sechs. Ich habe gesagt: «Du darfst selbst von den Dingen wählen, die ich auf den Tisch stelle, und essen, was du magst.» Das konnte er erst gar nicht glauben – und hat mich natürlich getestet. Das ist als Mutter kaum auszuhalten. Aber das gleicht sich aus.
Ihre Söhne Vincent, Valentin und Vitus sind inzwischen neun, sieben und fünf Jahre alt. Wie läuft es heute ab?
Wir haben feste Essenszeiten. Ich finde diesen Rahmen und die Struktur wichtig. Aber in diesem Rahmen können die Kinder frei entscheiden. Am Abend haben wir dann vielleicht noch etwas vom Vortag übrig, oder ich habe etwas Frisches gekocht. Auch Brot stelle ich oft auf den Tisch. Die Kinder entscheiden, was und wie viel sie haben möchten. Die Süssigkeiten sind nicht die ganze Zeit vor ihrer Nase, aber frei zugänglich im Schrank verstaut.
Und das funktioniert?
Ich habe kein Problem damit, wenn die Kinder am Abend auch mal ein Brot mit Konfi haben möchten. Es ist spannend, zu sehen, wie unterschiedlich sie entscheiden. Sie schauen gar nicht auf den anderen. Ich muss selbst noch schmunzeln, wenn Vinzenz den Salat in sich hinein schaufelt und daneben das Glas mit der Schokoladencreme steht.