Motorboot-Boom auf Schweizer Seen
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Ausgebuchte Bootsfahrlehrer:Motorboot-Boom auf Schweizer Seen

Motorboot-Boom auf Schweizer Seen
Leinen los!

Noch nie wollten so viele Schweizerinnen und Schweizer Motorboot fahren wie zu Zeiten der Pandemie. Wir haben die Schülerin Sylke Schicke (49) während einer Lektion auf dem Zürichsee begleitet. Und können die Faszination nachvollziehen.
Publiziert: 12.06.2021 um 13:53 Uhr
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Aktualisiert: 14.06.2021 um 17:42 Uhr
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Sylke Schicke aus Zürich ist eine von vielen, die während der Pandemie ihren Bootsschein machen wollen.
Foto: Nathalie Taiana
Jonas Dreyfus

Rückwärtsgang rein, Gas geben, kurbeln, kurbeln, kurbeln. Standgas, warten, Vorwärtsgang ... uuuuuuuuuuuund …. «Du bist zu weit abgedriftet», sagt Fahrlehrer Simone Sorice (33) zu seiner Schülerin. «Gib dem Boot mal ein bisschen Ruhe.»

Wir befinden uns im Hafen von Herrliberg an der Zürcher Goldküste. Sylke Schicke (49), die heute ihre zehnte Fahrstunde nimmt, atmet tief durch. Sie muss jetzt überlegen, wie sie das rund fünf Meter lange und zwei Meter breite Boot der Motorboot-Fahrschule Zürichsee, gebaut von der deutschen Manufaktur Hellwig, so positioniert, dass es vorwärts in der Lücke zwischen zwei anderen Fahrzeugen zum Stehen kommt. Sie soll es landen lassen, wie es im Jargon heisst.

«Wohin musst du jetzt steuern?», fragt Sorice. «Scheisse!», zischt seine Schülerin. Irgendwie fällt ihr grad nichts ein. «Backbord rückwärts», sagt sie dann. Also im Rückwärtsgang nach links. «Das wäre richtig gewesen», sagt Sorice. «Aber du hast zu lange überlegt.»

Dank Corona plötzlich massig Zeit

Schicke, eine in Zürich lebende Deutsche, ist eine von vielen, die es seit Beginn der Pandemie aufs Wasser zieht. Sie habe schon länger damit geliebäugelt, den Bootsschein zu machen, sagt sie, als Hotelangestellte habe sie zu Beginn der Pandemie plötzlich viel Zeit gehabt.

Die Lektionen sind relativ teuer. Auf dem Zürichsee kosten 60 Minuten meistens 120 Franken. Zwanzig bis dreissig Stunden braucht es, um prüfungsfit zu sein. Sie leiste sich das, sagt Schicke. «Wenn ich etwas unbedingt will, bin ich auch dazu bereit, an einem anderen Ort zu sparen.»

Rund 20 Prozent mehr Prüfungen hätten Experten schweizweit bereits 2020 während des Lockdown-Sommers abgenommen, sagt Peter E. Schmid vom Verband der Schweizerischen Motorboot- und Segelschulen. Und das, obwohl es aufgrund des Lockdowns zu monatelangen Unterbrüchen bei der Abnahme kam.

Fahrschulen schiessen wie Pilze aus dem Boden

Jetzt, zu Beginn der neuen Saison, sind die meisten Schulen bis Ende August ausgebucht. Und es werden laufend neue eröffnet. Schweizweit sei das Angebot um schätzungsweise 30 Prozent gewachsen, auf rund 500 Anbieter, sagt Schmid. Nur ein Bruchteil davon sei im Verband, und längst nicht alle seien gleich qualifiziert. «Wir empfehlen Schulen, bei denen mindestens ein Bootsfahrlehrer oder Segellehrer mit eidgenössischem Fachausweis tätig ist.»

Schicke hat das Manöver im Hafen erfolgreich beendet und tuckert mit 10 km/h auf den offenen See hinaus. Nach 300 Metern hat sie die Uferzone verlassen und beschleunigt auf 50 km/h. Und sofort lässt sich nachvollziehen, warum so viele das hier erleben wollen. Das Boot hüpft auf den Wellen, Erinnerungen an stürmische Überfahrten in fernen Ländern wie Thailand werden wach, von denen man Jahre später noch aufgeregt erzählt. Unter einem 150 Meter tiefes Wasser, vor einem das Ufer, das die Stadt mit all den grösseren und kleineren Problemen ihrer Bewohner aus einer ganz anderen Perspektive zeigt.

Social Distancing ist hier kein Problem

Trotz des Regens, der heute an die Blachen prasselt, grauem Himmel, Auspuffgeruch: Das Ferienfeeling, das viele vermissen, ist augenblicklich da. Hat jemand Social Distancing gesagt? Auch wenn man auf dem See ständig nach anderen Booten, Stand-Up-Paddlern und Schwimmern Ausschau halten muss, wie Sorice immer wieder betont, fühlt es sich an, als wäre man hier alleine. «Ich habe Auto fahren gelernt», sagt Schicke. «Aber auf die Strasse gehe ich nur, wenn ich muss. Es ist mir zu voll.»

Schicke hat das Glück, die beiden Boote der Familie ihres Freundes mitbenutzen zu können. Sie ankern auf dem Vierwaldstättersee. In diesem Gebiet kommt man auf dem Schiffsweg in kürzester Zeit an Orte, die auf dem Landweg schwer zu erreichen sind. Boote sind nicht nur Fortbewegungsmittel. Sie dienen auch als Privat-Badis. Oder als Sport-Hub, wenn sie Wasserski- und Wakeboarder hinter sich herziehen oder Fischer ihre Leinen vom Heck ins Wasser werfen.

Alles, was schwimmt

Der Spass, den ein Boot verspricht, zeigt sich auch bei den Verkäufen. Auf Boot24 haben sie sich seit Mai 2020 verdoppelt. «Momentan scheint alles gefragt zu sein, was schwimmt», sagte ein Mitarbeiter des Online-Portals jüngst zu SRF.

Gemäss dem Bundesamt für Statistik nahm die Anzahl registrierter Motorboote in der Schweiz in den vergangenen zwanzig Jahren trotz drei grösseren Flauten und im Gegensatz zu einem starken Rückgang bei den Segelbooten um sieben Prozent zu. 63’258 Motorboote waren vergangenes Jahr registriert. Viele kamen seit Beginn der Pandemie dazu, wie sich unter anderem im Kanton Zürich zeigt, wo die Anzahl im Jahr 2020 vor allem bei den Elektro-Motorbooten stieg. Zahlen für das aktuelle Jahr sind noch nicht erhoben.

Der Fahrschüler, der Panik vor Wasser hatte

Fahrlehrer Sorice möchte mit seiner Schülerin jetzt das Manöver «Mann über Bord» üben, das sie an der Prüfung können muss. Bei vollem Tempo wirft er eine orange Boje übers Geländer. «Mann über Bord!», ruft er militärisch. Schicke verlangsamt und nimmt sofort den Gang raus. Das Boot kommt in wenigen Sekunden zum Stehen. Die Herausforderung dieser Übung: Das Boot muss an die schwimmende Person herangleiten, ohne dass der Motor läuft. Er könnte sie verletzen. Schicke macht deshalb einen grossen Bogen in Richtung Rapperswil SG. Von dort kommt heute der Wind.

Das erkenne man am Papierschnipsel, das im Blickwinkel des Fahrers im Wind flattert, am Wellengang und beim Beobachten der anderen Boote auf dem See, sagt Sorice. Die Umgebung zu lesen – das sei eine der grossen Herausforderungen beim Bootfahren. Das zu lernen, brauche Geduld. «Bis jetzt konnte ich es jedem meiner Schülerinnen und Schüler beibringen. Sogar einmal einer Person, die sich ihrer panischen Angst vor Wasser stellen wollte.» Er freue sich, dass sein Service so gefragt sei, beobachte aber auch, dass viele eine falsche Vorstellung davon hätten, wie es nach der Prüfung weitergehe. «Wer mit einem eigenen Boot aufs Wasser will, braucht eine Anlegestelle. Davon gibt es immer noch genauso wenig wie vor der Pandemie.»

Dichtestress am Ufer

Wer sich mit erfahrenen Böötlern unterhält, dem wird klar: Wenn es um Bootsplätze geht, hört es auf mit der grossen Freiheit, die sich Greenhorns von ihrem neuen Hobby erhoffen. Sie sind so rar wie Sonnentage im Frühling. Die besten Chancen, an ein Boot inklusive «Parkplatz» zu kommen, haben diejenigen, die sich eines kaufen. Bei einer Werft, die einen Privatplatz zur Verfügung stellt.

Kauf und Miete sind in diesem Fall schnell mit Summen im sechsstelligen Bereich verbunden. Wer den Platz längerfristig behalten will, muss sich irgendwann ein neues Boot zutun, damit sich die Vergabe des Platzes für die Werft lohnt. Spontan geht hier gar nichts, die Lieferfristen für neue Boote sind wegen Corona noch länger als gewöhnlich. Fast alle werden importiert aus den klassischen Schiffbau-Nationen Frankreich, USA, Holland, Dänemark und Norwegen.

Was Leute mit durchschnittlicherem Budget betrifft: Viele der Böötler, die sich in Anbetracht des Lockdowns spontan ein gebrauchtes Fischerboot mit Aussenmotor kauften – zu haben ab 2000 Franken –, merken jetzt, dass sie es so schnell gar nicht ins Wasser bringen. Für die Anlegeplätze, die Gemeinden vermieten, gibt es lange Wartelisten. Bis zu zwanzig Jahre kann das gemäss Jean-Pierre Zingg, Präsident des Schweizerischen Motorbootverbandes, dauern.

Im schlimmsten Fall droht Zwangsverkauf

«Einen Platz zu haben, ist das A und O beim Bootskauf», sagt Zingg. Wenigstens die Grösse, die einem vorschwebt, solle man sich von vornherein überlegen. Die grössten Schiffe auf Schweizer Gewässern messen rund 16 Meter Länge, die kleinsten vier Meter. Am gängigsten sind Boote um acht Meter. Plätze für sie sind dementsprechend begehrt und kosten laut Zingg auf einem «günstigen» Gewässer wie dem Neuenburgersee rund 3000 Franken und dreimal so viel auf einem «teuren» wie dem Zürichsee.

Am preiswertesten sind die heiss begehrten Bojen, zu denen Bootsbesitzer hinauspaddeln müssen. Sie kosten rund 800 Franken pro Jahr. Die beste Lösung, sagt Zingg: Nach Occasionsangeboten Ausschau halten, bei denen das Mietrecht mitverkauft wird. «Viele Käufer geben sich mit einer temporären Lösung für eine Saison zufrieden und haben dann jedes Jahr von neuem einen riesigen Stress. Im schlimmsten Fall müssen sie ihr Boot verkaufen.»

Platz-Besetzer gelten als asozial

Wegen dieses Dichtestresses regt sich die Boot-Szene wahnsinnig über Leute auf, die Plätze besetzen, obwohl sie ihre Boote nicht benutzen. «Es sieht auch nicht schön aus, wenn Boote während Jahrzehnten vergammeln, weil der Besitzer denkt, dass die Grosskinder vielleicht irgendwann mal Lust haben, es zu fahren», sagt Zingg. Manche Häfen kontrollieren genau, wie oft welches Schiff bewegt wird. Wer es zu lange stehen lässt, dem wird ein Ultimatum gestellt.

Schicke lässt sich jetzt seitlich zur Boje treiben, die im Ernstfall ein Mensch wäre, und hebt sie zurück ins Boot. Bevor sie Gas gibt, um zurück zum Ufer zu fahren, wartet sie einen Moment. Es ist gerade so schön ruhig, das Boot schaukelt hin und her, niemand sagt ein Wort. Wahrscheinlich ist es gerade das, wofür sich das viele Geld, die anspruchsvolle Prüfung und der Kampf um einen Anlegeplatz schlussendlich lohnt: das Gefühl, für einen kurzen Moment der einzige Mensch auf der Welt zu sein.

Edelholz-Boote aus der Schweiz

Sie gelten als die Porsches unter den Motorbooten: die Einzelanfertigungen von Boesch und Pedrazzini. Die rund hundert Jahre alten Werften in Kilchberg ZH und Bäch SZ, beide Orte liegen am Zürichsee, sind weltweit die letzten, die moderne Boote aus Edelholz bauen. Boesch verbaut laut eigenen Angaben pro Jahr etwa zwei Mahagonibäume aus zertifiziertem Anbau in Westafrika. Das günstigste Modell kostet knapp 200'000, das Modell «St. Tropez» rund 750'000 Franken.

Luxusboot von Boesch

Sie gelten als die Porsches unter den Motorbooten: die Einzelanfertigungen von Boesch und Pedrazzini. Die rund hundert Jahre alten Werften in Kilchberg ZH und Bäch SZ, beide Orte liegen am Zürichsee, sind weltweit die letzten, die moderne Boote aus Edelholz bauen. Boesch verbaut laut eigenen Angaben pro Jahr etwa zwei Mahagonibäume aus zertifiziertem Anbau in Westafrika. Das günstigste Modell kostet knapp 200'000, das Modell «St. Tropez» rund 750'000 Franken.

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