Ah, ja, genau! Das wird wohl die Reaktion auf viele der Bilder sein, die ab dem 12. April im Zürcher Museum für Gestaltung ausgestellt werden. Denn wir kennen das meiste schon: Die Bilder des italienischen Fotografen Oliviero Toscani (82) hingen ab den 1990er-Jahren prominent und weltweit als Werbung auf grossen Anzeigetafeln, sorgten regelmässig für Kontroversen und brachten insbesondere der Kleidermarke Benetton internationale Aufmerksamkeit. Toscanis Stil prägte sogar einen Begriff: Shockvertising, eine Mischung zwischen Schock und Advertising (Werbung), bezeichnet seine Taktik, mit Bildern, die plakativ und provokativ soziale Missstände und Tabus zeigen, Aufsehen zu erregen.
Toscani nimmt regelmässig Themen vorweg, die uns heute, 30 Jahre später, noch immer beschäftigen. Seine Kampagne für Benetton, die junge Menschen verschiedenster Hautfarbe vereint, schwarze und weisse Kinder nebeneinander beim Spielen zeigt, oder eine schwarze Frau, die in Nahaufnahme einen weissen Säugling stillt, sind eigentlich frühe Plädoyers gegen Rassismus und für Diversität, notabene zu einer Zeit, als noch niemand von Diversität gesprochen hat. Diese Bilder sind – von uns aus gesehen, in Südafrika sah das wohl anders aus – geradezu harmlos, sozusagen die schöne und fast schon liebliche Seite von Toscanis Arbeit.
Noch heute fragt man sich: Darf man das?
Andere Toscani-Bilder, darunter ebenfalls Benetton-Kampagnen, werfen bis heute die Frage auf: Darf, soll man das zeigen? Denn bis heute wirken einzelne Bilder verstörend: so etwa das Bild eines durch eine Hinrichtung der Mafia ermordeten Menschen, samt trauernden Angehörigen vor einer Blutlache – und links davon ist das Logo von Benetton ins Bild montiert. Bilder von Menschen, die in den USA auf ihre Todesstrafe warten. Oder das grosse Nacktbild einer Magersüchtigen, das 2007 genau zu Beginn der Milano Fashion Week auf grossen Billboards prangt und so der Modewelt den Spiegel vorhält. Die weinenden Angehörigen eines an Aids Verstorbenen, der auf seinem Todesbett gezeigt wird, direkt und unangenehm nah – eine Kampagne aus dem Jahr 1991.
Sterben, Trauer, Liebe, tiefste menschliche Emotionen als Werbung inszeniert, als Konsumanregung, als Profitgenerator für ein Unternehmen – «dieser Widerspruch löst bis heute Unbehagen aus und ist nicht aufzulösen», sagt der Ausstellungskurator und Direktor des Museums für Gestaltung, Christian Brändle (55). Und fügt aber sofort an: «Toscani hat aber mit diesem Bild Leben gerettet.» Der Hintergrund: Noch kurz zuvor, Ende der 1980er-Jahre, hatte der damalige US-Präsident Ronald Reagan behauptet, nur Homosexuelle würden an Aids sterben – Toscani brachte die Realität unübersehbar auf die Strasse. «Die Welt konnte nicht mehr wegsehen», sagt Brändle. Und mehr noch: Da diverse Länder die Werbung verboten haben, wurde das Geld, das nun für die Billboards nicht ausgegeben werden musste, für ein von Toscani initiiertes Gratis-Benetton-Magazin namens «Colors» ausgegeben. Auflage 600'000 Stück in neun Sprachversionen, Thema: Aids. Auf insgesamt 71 Doppel-Farbseiten wurden Realitäten der Krankheit dargestellt, Vorurteile widerlegt, und es wurde aufgezeigt, wie man sich schützen kann.
Toscani: «Ich bin eigentlich kein Fotograf»
Toscani selbst sagt auf Anfrage zur anhaltenden Kontroverse, die seine Bilder auslösen: «Ich bin eigentlich kein Fotograf. Ich bin ein politischer Mensch und ein Künstler, der die Welt verstehen will. All meine Arbeit ist politisch und will Missstände sehen und aufzeigen. Fotografie ist einfach das Mittel dazu.» In der Vermischung von Werbung und Bildern, die von tiefster Trauer und dem Sterben handeln, sieht er kein Problem: «Das Einzige, was ich bereue, ist, wenn ich zurückgekrebst und nicht weit genug gegangen bin.»
Werbung sei schon seit den 1960er-Jahren eine viel kreativere Plattform gewesen, als was etwa im Journalismus möglich gewesen sei. Er ist voll des Lobes für seinen ehemaligen Arbeitgeber Benetton: «Ich habe eigentlich Benetton dazu herangezogen, um die Themen zu zeigen, die mir wichtig sind – es ist für einen Künstler etwas vom Wichtigsten, mit intelligenten, finanzstarken Auftraggebern zusammenzuarbeiten, die ihm diese gesellschaftlich wichtige Arbeit ermöglichen. Michelangelo hätte die Sixtinische Kapelle auch nicht malen können, wenn Papst Julius II. ihn nicht finanziert hätte.»
Wegweisend im Guten wie im Schlechten
Toscani nimmt mit seiner Arbeit auch einige unschöne «Trends» vorneweg, die unsere heutige Zeit 20 bis 30 Jahre später ausmachen: Zum einen ist das die Durchkommerzialisierung der privatesten Emotionen. Längst schlagen Social-Media-Unternehmen aus unseren tiefsten Wünschen und Sehnsüchten Profit. In der Rückblende wirkt Toscanis Verschränkung vom schockartigen Aufzeigen gesellschaftlicher Missstände in der Öffentlichkeit mit einer kommerziellen Vermischung in diesem Zusammenhang wie Vorreiter von Schlimmerem, das noch kommen wird. Und seine Kampagnen nehmen auch vorneweg, wie Bilder heute eingesetzt werden.
Längst haben wir uns an die schrecklichen Videos und Bilder des IS gewöhnt. Sie sollen gezielt Angst und Schrecken auslösen, Macht demonstrieren, sie werden so eigentlich selbst zu einem Werkzeug des Terrors, sagt sinngemäss der deutsche Kunsthistoriker Horst Bredekamp (76) vor einigen Monaten in der «Süddeutschen Zeitung». Er fordert ein Verbot von Bildern von Mord, Folter und Vergewaltigung und dass das Ansehen dieser Bilder strafbar wird, genauso wie es für kinderpornografische Bilder bereits der Fall ist. Dies, da Social-Media-Unternehmen nicht willens seien, sich zu regulieren.
Für Toscani, Vorreiter schockierender Bilder in der Öffentlichkeit, ist das doppelt naiv: Zum Ersten, meint er, soll man ganz einfach nicht auf Social Media, «die Verblödungsmaschine unserer Gegenwart», gehen – oder halt wegsehen. Zum anderen verweist er auf die Geschichte: «Schon immer hat es schockierende Darstellungen in der Kunstgeschichte gegeben – und die Menschheit ist nicht so dumm, damit nicht umgehen zu können.»
Ob er es sich damit etwas einfach macht, muss wohl jede Ausstellungsbesucherin und jeder Ausstellungsbesucher im Museum für Gestaltung selbst entscheiden. Dass Toscani aber die Werbung revolutioniert und dabei sozusagen mit der visuellen Brechstange sehr, sehr viel Gutes bewirkt hat, ist unbestritten.
Ausstellung im Museum für Gestaltung Zürich: «Oliviero Toscani: Fotografie und Provokation», 12. April bis 15. September 2024