Vorher war es immer am schlimmsten: «Aufträge machten mich stets nervös», sagt Sabine Wunderlin (70), «denn du machst eine Arbeit, die alle sehen.» Und so schossen ihr vorher jeweils viele Fragen durch den Kopf: Wie sieht der Treffpunkt aus? Wer ist die Person dort? Was kommt beim Rendez-vous raus? Vor Ort verflog dann die Nervosität – Wunderlin blieb wenig Zeit, sie war fokussiert auf ihre Arbeit, drückte gezielt und schnell ab.
Nachher lag das Ergebnis vor – variantenreiche Bilder von Begegnungen mit prominenten Personen aus Politik, Wirtschaft und Kultur: Bundesrat Ignazio Cassis (62), Unternehmerin Nayla Hayek (72) oder Künstlerin Pipilotti Rist (61) hatte Wunderlin alle vor der Linse. Auch Skigott Pirmin Zurbriggen (60) lichtete sie ab. Und den Stellvertreter Christi: Papst Johannes Paul II. (1920–2005). Wunderlin: «Ich fotografiere lieber Menschen als Landschaften.»
Vorher war Wunderlin 33 Jahre lang Pressefotografin für die Blick-Gruppe, nachher gibt es eine Ausstellung und ein Buch zu ihrer Arbeit: Ab dem 18. August zeigt das Stadtmuseum Aarau unter dem Titel «Sabine Wunderlin – Fotografin in einer Umbruchszeit» rund 300 Werke ihres Schaffens; gleichzeitig zur Vernissage erscheint beim Sachbuchverlag Rüffer & Rub der informative Bildband «Zwischen Stein, Bundeshaus & Pudding Palace».
«Fotografie war im Haushalt inbegriffen»
Stein AG im Fricktal ist der Geburtsort von Sabine Wunderlin, wo sie am 5. August 1953 als viertes von sechs Kindern zur Welt kam. Der Vater war dort Sekundarschullehrer, die Mutter mit Haushalt, grossem Garten und der Erziehung der Kinder vollauf beschäftigt. «Die Fotografie war im Haushalt inbegriffen», sagt Wunderlin. «Als Vater ein Haus baute, nutzte er den Raum unter der Treppe für eine Dunkelkammer zur Entwicklung der Filme.»
Für jedes der sechs Kinder stellte er über die Jahre je ein Fotoalbum zusammen, von den Menschen im Dorf machte er auf Bestellung Porträts für den Schweizer Pass. Sabine war fasziniert und half ihm bei der Arbeit in der Dunkelkammer. Und wenn in Stein einem alten Haus der Abriss drohte, schickte er seine Teenager-Tochter mit der Kamera raus und sagte: «Mach doch noch ein Foto.» Der Grundstein für ihre Vorher/Nachher-Serie war gelegt.
«Das ist doch wohl der Urquell aller Knipserei, dieses echt künstlerische Bedürfnis in jedem Menschen», schrieb der Schweizer Schriftsteller Max Frisch (1911–1991) in seinem Aufsatz «Knipsen oder sehen?» von 1934, «man verzweifelt, wenn man die Schönheit immerzu verliert, weil sie uns zwischen den Fingern zerrinnt.» Wer nun glaubt, dass Frisch im Fotografieren ein probates Mittel gegen die Vergänglichkeit erkannte, der irrt.
Je mehr Fotoapparate auf der Welt seien, umso weniger Menschenaugen gebe es, schimpfte er stattdessen und schrieb weiter: «Je mehr Films entwickelt werden, umso unterentwickelter bleibt die Erinnerung.» Ganz Kulturpessimist, erkannte Frisch einen «Erinnerungsbankrott», erachtete fotografierende Menschen als «Sklaven der Kamera» und verachtete die aus dieser Tätigkeit entstehenden Bilder als «Landschaftskonserven».
Fehlendes Sensorium für optische Erinnerung
Konserven, um zu bewahren: Diesem Gedanken kann Wunderlin durchaus etwas Positives abgewinnen. Im Gegensatz zum Mann des Wortes sieht die Fotofrau in der Kamera aber keine Feindin, sondern eine Freundin der Erinnerung. «Von Anfang an erachtete ich es als Makel, dass wir kein Sensorium für optische Erinnerung haben», sagt sie. «Wir können mit den Augen alles anschauen, aber nicht sagen, wie das gestern oder vorgestern aussah.»
Die Kamera kann das. Seit Jahren dokumentiert Wunderlin deshalb in ihrer Vorher/Nachher-Serie den Verlust in der Landschaft – das Fällen von Kirschbäumen im Fricktal, den Bau der Autobahn A3 durch ihre alte Heimat und die Verdichtung durch Abriss und Neubau. «Die vom Mensch gemachte Welt rückt uns immer mehr auf die Pelle», sagt sie. «Und was wir durch das Bauen verlieren, hat seelische Auswirkungen.»
Vorher war es immer schöner. «So wie ich Landschaftsfotografie betreibe, hat es eine deprimierende Seite», sagt Wunderlin. «Deshalb fotografiere ich lieber Menschen als Landschaften.» Die ersten Porträtbilder machte sie Anfang der 1970er-Jahre von Schulkameradinnen, als sie in Basel das Gymnasium in der letzten reinen Mädchenklasse besuchte. «Am Schluss war ich bei allen Kameradinnen einmal zu Hause», sagt sie und fügt an: «Ich bin halt ein Wunderfitz.»
Vorher Schülerin, nachher Lehrerin: Wunderlin absolvierte in Liestal das Lehrerseminar und unterrichtete ab Herbst 1975 eine 1. Sekundarschule in Rheinfelden AG. Dort verliebte sie sich in eine andere Lehrerin – zusammen reisten sie durch die USA und Kanada. Zurück in der Schweiz war Wunderlin 1979 arbeitslos und macht die Aufnahmeprüfung für einen der fünf Plätze in der Fotoklasse der Kunstgewerbeschule Zürich – vorher Lehrerin, nachher Schülerin.
Zu Beginn gleich den Papst porträtieren
Einmal kam Magnum-Fotografin Inge Morath (1923–2002) in den Unterricht, erzählte von ihrer Reise durch das damals abgeschottete China und zeigte Reportagebilder. «Ich weiss noch, wie meine Mitschülerinnen darüber schnödeten, während ich die Fotos verteidigte», sagt Wunderlin. «Die haben sich alle als Künstlerinnen gesehen.» Sie war demgegenüber begeistert, als Journalist und Schriftsteller Hugo Loetscher (1929–2009) in einer Schulstunde von der Geschichte der Pressefotografie erzählte.
Die Sache war klar, als 1984 kurz vor Schulabschluss ein Lehrer vor die Klasse trat und sagte: Der SonntagsBlick habe angerufen und gefragt, ob hier eine Frau fotojournalistisch interessiert sei. «Ich wusste, das ist eine grosse Chance, weil der SonntagsBlick eine breit angelegte Zeitung ist», sagt Wunderlin. Sie traf sich mit dem Fotochef. Der wollte bloss wissen, ob sie einen Führerausweis habe und in wenigen Tagen beginnen könne.
Am Pfingstmontag 1984 fuhr die zunächst als «Fotoassistentin» angestellte Wunderlin mit dem Geschäftsauto ins Tessin, um sich am nächsten Morgen, dem 12. Juni, am Flugfeldrand in Agno TI zu positionieren – der Heilige Vater, Johannes Paul II., war im Anflug. Doch trotz sorgfältiger Vorbereitung gelang es ihr nicht, den Papst beim Aussteigen zu fotografieren, denn nach der Türöffnung verliess zunächst ein Schwarm Fotografen das Flugzeug und verstellte ihr die Sicht.
«Es war immer ein Kampf um den besten Platz», sagt sie. «Und es gab ein paar rücksichtslose Exemplare unter den Kollegen.» Wunderlin versuchte es meist mit Schnelligkeit: «Ich hatte den unbedingten Willen zum Bild.» Deshalb stieg sie am 1. September 1984 bei der Turm-Flug-Rallye im Walensee auf das neun Meter hohe Gerüst. Doch das kippt noch vor dem ersten Deltaflieger mit 20 Personen ins Wasser. Wunderlin schwamm ohne Schramme ans Ufer, doch ihre Contax-Kamera war futsch.
Keine Sehnsucht nach der Dunkelkammer
Vorher hiess es Filme zum Entwickeln bringen, abwarten und schauen, welche Fotos geglückt sind. «Wir arbeiteten auf Dias, und die hatten belichtungstechnisch einen kleinen Toleranzbereich», sagt sie. Nachher folgte die Digitalisierung. Ein grosser Vorteil sei, dass die Bilddatei nun gleich einen Datumstempel habe. Wunderlin: «Ich habe absolut keine Sehnsucht nach der Dunkelkammer.»
Nur manchmal, wenn Porträtierte bei Fotosessions auf dem digitalen Display die Fotos sehen wollten, wünschte sie sich eine analoge Kamera. «Man läuft Gefahr, dass manche zu sehr mitreden und mitbestimmen wollen», sagt Wunderlin. Das klingt nach einer dominanten Fotografin – das Gegenteil ist wahr: «Ich regte mein Gegenüber jeweils an, Ideen zu melden», sagt sie. «Es ist ein Geben und Nehmen.»
Die schönsten Fotoerlebnisse seien die, bei denen man in einen Strudel komme und zusammen etwas kreiere, «das ist die hohe Schule». Eine fast schon erotische Fotosession hatte Wunderlin mit der britischen Sängerin Kim Wilde (62): «Sie blieb mir sehr in Erinnerung, wie sie durch die Kamera flirten konnte.» Wunderlin bekam fast ein wenig weiche Knie.
Vorher Aufträge für ein Redaktionsmitglied und die Fotografin, nachher Treffen mit prominenten Personen; vorher viel Zeit für Fragen der Schreibenden, nachher Dutzende von gedruckten Interviews im SonntagsBlick; vorher wenig Zeit für Fotosessions von Wunderlin, nachher 45'174 von ihr gemachte Bilder im digitalen Archiv der Blick-Gruppe und Tausende Negative und Dias in der Ringier-Bildersammlung des Staatsarchivs vom Kanton Aargau.
Nun würdigt die Ausstellung im Stadtmuseum Aarau erstmals Wunderlins umfangreiches Schaffen.
Ausstellung: «Sabine Wunderlin – Fotografin in einer Umbruchzeit», 18. August bis 8. Oktober 2023 im Stadtmuseum Aarau
Buch: Sabine Wunderlin, «Stein, Bundeshaus & Pudding Palace», Rüffer & Rub, ab Mitte August im Handel
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