Herr Kohn, Ihr bekanntester Erziehungsratgeber ist 25 Jahre alt. Warum provoziert er immer noch?
Alfie Kohn: Weil er sich – anders als die meiste Ratgeberliteratur – mit langfristigen Zielen beschäftigt. Was können wir dafür tun, damit unsere Kinder so herauskommen, wie wir uns das erhoffen. Und nicht einfach nur temporär Regeln befolgen, indem wir sie entweder bestrafen oder belohnen.
Dass Sie gegen das Bestrafen sind, ist naheliegend. Dass Sie auch das Belohnen inklusive des Lobens nicht gut finden, weniger. Was ist so schlimm daran?
Wenn wir ein Kind belohnen, indem wir es loben, geben wir ihm das Signal: Wenn du das gut machst, erhältst du dieses. «Dieses» kann ein Stück Schokolade sein, ein Sternchen-Sticker, eine gute Schulnote oder einfach nur ein «gut gemacht». All das sind extrinsische – sprich äusserliche – Motivatoren, die die intrinsische Motivation, die von innen kommt, abschwächen.
Ich bin Vater einer dreieinhalb Monate alten Tochter. Wenn ich sie auf den Bauch lege und sie ihr Köpfchen hebt, rufe ich «Bravo!» und klatsche in die Hände. Davon würden Sie mir also abraten?
Wenn Sie wollen, dass Ihre Tochter abhängig wird von der Zustimmung von jemand anderem, dann trainieren Sie sie ruhig weiterhin wie ein Haustier. Wenn Sie ihr jedoch helfen wollen, sich selbst zu genügen, dann hören Sie damit auf. Belohnungen – seien sie mündlich oder physisch – dienen einzig und allein der Manipulation.
Was wäre eine gute Art zu reagieren?
Müssen Sie überhaupt reagieren? Sie können Ihrer Tochter auch einfach das Gefühl geben, dass Sie ihr aufmerksam zusehen. Sehr oft kommentieren wir, was ein Kind tut, weil das unserem Bedürfnis entspricht. Kinder wollen uns aber nicht unbedingt immer etwas sagen hören.
Ich gehe davon aus, dass meine Tochter ihr Köpfchen auch hebt, ohne dass ich ihr applaudiere. Viele Eltern belohnen ihre Kinder auch mehr für Dinge, die sie vielleicht nicht automatisch tun. Lesen zum Beispiel.
Ich sage immer: Der schnellste Weg, einem Kind die Freude am Lesen zu verderben, besteht darin, es fürs Lesen zu belohnen. Wenn ein Kind das Gefühl hat, es lese jemand anderem zuliebe, stirbt sein Interesse. Dasselbe gilt für Kinder, die dafür gelobt werden, wenn sie etwas mit einem anderen Kind teilen. Mehrere deutsche und amerikanische Studien haben gezeigt, dass das genau das Gegenteil bewirkt von dem, was sich die Eltern erhoffen.
Wie lassen wir ein Kind wissen, dass es beim Teilen etwas Gutes tut, ohne es zu loben?
Wenn ein Kind zum Beispiel sein Dessert mit einem anderen Kind teilt, können wir es fragen: Ich weiss, dass du Kekse sehr magst. Warum hast du dich entschieden, einen deiner Kollegin zu geben? Es wird vielleicht über sein Bedürfnis nachdenken, anderen eine Freude zu machen.
Ich versuche das gerade aufs Erwachsenenleben zu übertragen. Angenommen, mein Chef lobt mich nachträglich dafür, wie ich dieses Interview geführt habe. Droht die Gefahr, dass ich das Interesse an dieser Textform verliere?
Über Erwachsene, die sich gegenseitig loben, mache ich mir keine so grossen Sorgen wie über die Auswirkungen des Lobens auf Kinder. Je besser Sie sich jedoch fühlen, wenn Ihnen Ihr Chef auf die Schulter klopft, desto wahrscheinlicher ist es, dass Ihre Eltern Sie mit Belohnungen und Bestrafungen erzogen haben.
Das mag jetzt pseudopsychologisch klingen: Aber gehört es nicht zur menschlichen Natur, gefallen zu wollen?
Absolut. Es gibt von Natur aus ein Bedürfnis, geliebt zu werden. Am stärksten ist dieses bei Kindern. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir dieses Bedürfnis bei ihnen nicht ausnutzen. Es kann so schnell passieren, dass ein Kind eine unserer Reaktionen als extrinsischen Motivator wahrnimmt. Das müssen wir nicht einmal absichtlich wollen.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Als meine Tochter zu zeichnen begann, war es naheliegend, dass ich ihr zeigen wollte, wie sehr mir ihre Bilder gefielen. Ich hatte aber Angst davor, dass sie als Folge nur noch schnell etwas hinkritzeln würde, um es mir unter die Nase zu halten und mich zu fragen: «Ist es gut, Daddy? Gefällt es dir?» Deshalb habe ich lieber etwas Inhaltliches zum Bild gesagt. Zum Beispiel: «Ich sehe, dass du die Menschen mit Zehen gemalt hast. Das hast du beim letzten Bild noch nicht getan. Wie hast du das gelernt?»
Sprechen wir über das Thema Noten. Sie sind für deren Abschaffung.
Noten sind die ultimativen extrinsischen Motivatoren und haben einen dementsprechend destruktiven Effekt. Selbstverständlich gibt es Schüler, die gegen sie immun sind. Studien haben aber gezeigt, dass Schüler, die ihre Noten verbessern wollen, tendenziell das Interesse an dem verlieren, was sie lernen. Zudem wählen sie, wenn man sie lässt, die einfachste und gängigste Aufgabe von allen. Weil sie rational sind, nicht unmotiviert. Jedes Mal, wenn Schüler benotet werden, untergräbt man ihr Bedürfnis, Neues auszuprobieren.
Sie empfehlen einen schriftlichen Report, in dem steht, was ein Schüler gut macht und wo er sich verbessern kann. Oder, noch besser, ein Gespräch, in dem über diese Punkte gesprochen wird. In den meisten Schulen sind Noten aber sakrosankt.
Das Notensystem wird oft als unumstösslich wie das Wetter betrachtet. Doch weder Eltern noch Lehrer müssen das einfach so hinnehmen. Sie könnten sich organisieren und dagegen mobilisieren. Wer sagt, dass sie damit keinen Erfolg haben? Und wenn sich am System nichts ändern lässt, können Eltern wenigstens alles dafür tun, dass ihre Kinder so wenig wie möglich an die Noten denken.
Wie denn?
Indem sie mit ihren Kindern zum Beispiel darüber reden, was sie in der Schule lernen. Und nicht darüber, wie gut sie nach Meinung der Lehrerin oder des Lehrers etwas lernen.
Ich habe Fächer wie Mathematik zu meinen Schulzeiten gehasst und bezweifle, dass ich mich ohne Notendruck nur eine Sekunde mit Amplituden beschäftigt hätte.
Das wird daran liegen, was Ihnen in Mathematik und wie Ihnen Mathematik gelehrt wurde. Wenn es nur darum geht, Fakten, Formeln und Algorithmen auswendig zu lernen, um damit richtige Antworten zu produzieren, ist das nur für wenige Menschen reizvoll.
Wie liesse sich Mathematik zugänglicher vermitteln?
Indem die Lehrkraft den Fokus auf Rätsel legt, die gelöst werden sollen. Diese Rätsel können mit einer Frage beginnen, die die Schüler automatisch interessiert. Bei Jüngeren zum Beispiel könnte es wieder um Kekse gehen: Wie viele kann jeder vom Teller nehmen, damit es für alle fair ist? Oder das Thema Geburtstag: Wie gross ist der Anteil Schülerinnen und Schüler in der Klasse, die im Sommer zur Welt kamen?
Und bei älteren Schülern?
Für sie wäre es vielleicht spannend, die Tageszeitung nach mathematischen Fragestellungen zu durchforsten. Der Klimawandel oder Wahlen sind dafür dankbare Themengebiete. Wenn Schüler einem Fach wie Mathe selbst einen Sinn geben können, muss man sie schnell einmal nicht mehr dazu zwingen, sich damit zu beschäftigen.
Wenn es nach Ihnen ginge, gäbe es in der Schule auch keine Hausaufgaben. Sie waren selbst einmal Lehrer – und sind sicher angeeckt.
Tatsächlich hat sich bei mir innerlich alles gesträubt bei fast allem, was ich als Lehrer machen musste. Oder dachte, machen zu müssen. Ich war nur kurz in diesem Beruf, aber gerade genug lange, um zu realisieren, wie herausfordernd es ist, ihn gut zu machen. Das meiste habe ich später gelernt, als ich für meine Bücher mit anderen Lehrern gesprochen habe. Auch, dass der Sinn von Hausaufgaben ein Mythos ist.
Warum?
Weil Hausaufgaben – darüber sind sich alle einig – viel Frustration oder sogar einen Familienstreit auslösen. Das kann Kindern das Lernen verderben. Und trotzdem haben alle das Gefühl, es führe kein Weg an Hausaufgaben vorbei. Doch keine einzige wissenschaftliche Studie hat jemals bestätigt, dass es etwas bringt, wenn Schüler nach einem langen Schultag noch eine weitere Schicht einlegen müssen, um Berge von Hausaufgaben abzuarbeiten.
Manche Lehrer würden wohl damit argumentieren, dass sie ohne Hausaufgaben nicht genügend Zeit hätten, den Unterrichtsstoff vollständig zu vermitteln.
Wenn ich das Lehrer sagen höre, frage ich oft danach, wie viel Unterrichtszeit sie denn genau brauchen würden, damit sie den Unterrichtsstoff ohne Hausaufgaben vermitteln könnten. Noch nie hatte jemand eine Antwort darauf bereit. Ich bin überzeugt, dass Lehrer mehr reinpacken, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. Das ist ähnlich wie bei meinem Arbeitspult, auf dem sich die Berge türmten, bis ich keinen Platz mehr hatte. Ich habe mir deshalb ein grösseres Pult gekauft. Raten Sie mal, wie es dort jetzt aussieht. Genau gleich wie vorher.
«Liebe und Eigenständigkeit – Die Kunst bedingungsloser Elternschaft, jenseits von Belohnung und Bestrafung» (Arbor) machte den Erziehungswissenschaftler Alfie Kohn zum bekanntesten Kritiker vorherrschender Bildungssysteme. Seither publizierte er zahlreiche Artikel und Bücher, darunter auf Deutsch erhältlich auch «Der Mythos des verwöhnten Kindes». Der 63-jährige Amerikaner kam in Miami (Florida) zur Welt, heute wohnt er in der Nähe von Boston, Massachusetts. Er hat einen Master in Sozialwissenschaften der University of Chicago, ist geschieden und Vater von zwei erwachsenen Kindern.
«Liebe und Eigenständigkeit – Die Kunst bedingungsloser Elternschaft, jenseits von Belohnung und Bestrafung» (Arbor) machte den Erziehungswissenschaftler Alfie Kohn zum bekanntesten Kritiker vorherrschender Bildungssysteme. Seither publizierte er zahlreiche Artikel und Bücher, darunter auf Deutsch erhältlich auch «Der Mythos des verwöhnten Kindes». Der 63-jährige Amerikaner kam in Miami (Florida) zur Welt, heute wohnt er in der Nähe von Boston, Massachusetts. Er hat einen Master in Sozialwissenschaften der University of Chicago, ist geschieden und Vater von zwei erwachsenen Kindern.