«Bei uns steht ein anderes Kinder-Bild im Zentrum»
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Eltern eröffnen eigene Schule:«Bei uns steht ein anderes Kinder-Bild im Zentrum»

Lehrer Hanna und Nils Landolt wollen die Bildung revolutionieren
Diese Glarner Eltern starten eigene Schule

Hanna und Nils Landolt haben vier Kinder. Und bald eine eigene Schule. Im Glarner Dorf Mollis wollen sie das Schweizer Bildungssystem auf den Kopf stellen – und damit die Volksschule inspirieren.
Publiziert: 08.08.2021 um 11:57 Uhr
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Aktualisiert: 08.08.2021 um 13:09 Uhr
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Hanna und Nils Landolt mit ihren vier Kindern in den Räumen ihrer Schule in Mollis GL.
Foto: Siggi Bucher
Aline Wüst

Hanna Landolt (29) war eine gute Schülerin. Sie machte, was ihr gesagt wurde, widersprach nie. «Eine Angepasste war ich», sagt sie. Dann wurde Landolt Mutter. Vier Kinder in kurzer Folge. Sie spürte: «Ich will meine Kinder nicht in dieses Schulsystem geben.» Also las sie unzählige Bücher. Alles, was es übers Lernen zu lesen gibt.

Nils ist Hannas Mann. Er ist Primarlehrer. Unterrichtete bis vor den Sommerferien in Adliswil ZH. Auch Nils Landolt (33) beschäftigte die Art zu lernen, wie es in der Volksschule gemacht wird. Als Lehrer und als Vater. Er sagt: «Unser Schulsystem bildet Kinder für die Vergangenheit aus.»

Tränen bei Lehrpersonen

Hanna und Nils Landolt tauschten sich mit Pädagogen, Lehrpersonen und Eltern aus. Sie merkten: Viele sind unglücklich in diesem System. Vieles macht keinen Sinn. Beide sagen: Das Schulsystem werde den Kindern nicht gerecht. Die Kinder könnten darin ihrem wichtigsten Lernantrieb nicht folgen: der Neugierde. Als Nils einmal in einem Referat von seiner Vision des Lernens erzählte, gab es Zuhörer, die weinten – Lehrpersonen. Doch dass sich wirklich etwas ändern könnte, daran wagten die wenigsten zu glauben.

Hanna und Nils Landolt schon. Sie suchten Gleichgesinnte. Menschen mit Mut und Vision. Und gründeten das Netzwerk «Schulwandel». Vor zwei Jahren beschlossen sie: «Wir tun es!» In einer Woche ist es nun so weit: Ihre Vision einer zeitgemässen Primarschule wird lebendig. Und zwar in Mollis im Kanton Glarus, wo die beiden aufgewachsen sind und heute noch leben.

Neugierde im Zentrum

Als wir sie vor zwei Wochen besuchten, war die Schule in der ehemaligen Spinnerei noch immer eine Baustelle. Landolts gingen durch den grossen Raum. Je ein Kind auf dem Arm. Die grösseren beiden kletterten auf dem Baumaterial rum. Elia (7), Malea (5), Sophia (3) und Juna (1) werden zusammen mit acht anderen Kindern, in eine Schule gehen, die ihre Eltern sich ausgedacht haben.

Und so sieht der Unterricht im Lernhaus Sole aus. Wobei: «Hier wird kein Kind unterrichtet», korrigiert Nils Landolt. «Wir begleiten die Kinder.» Dafür brauche es eine Lernumgebung, die Neugierde ins Zentrum stelle. Also zu fragen: Was machst du gern und wie kann ich dich dabei unterstützen? Es werde im Lernhaus Sole Fünftklässler geben, die bereits den ganzen Stoff der Sekundarschule beherrschten. «Mit der konventionellen Art des Unterrichts werden nur 30 Prozent der Kinder abgeholt», sagt Nils Landolt. Der Rest sei entweder unter- oder überfordert. Und was ist, wenn ein Kind keine Lust auf Französisch hat? Dann würden Lernangebote gemacht, sagt Nils Landolt. Und wenn sie so reden, während sie ein weinendes Kind trösten und zwischendurch mit einem anderen aufs WC rennen, tönt alles ganz leicht. Am Ende, das wissen beide, müsse der Lehrplan eingehalten werden. Auch da stellt das Lernhaus Sole das System auf den Kopf: «Wir geben nicht Unterricht, um den Lehrplan zu erfüllen. Wir gleichen ab, welche Fähigkeiten das Kind erlernt hat und welchen Anforderungen im Lehrplan das entspricht.»

Permakultur-Garten und 3D-Drucker

In ihrer Schule der Zukunft soll es darum viel Raum geben, um der Neugier nachzugehen. Kinder sollen die digitalen Möglichkeiten nutzen, im Permakultur-Garten arbeiten, auf Bäume klettern und Tiere pflegen. Sie haben Zugang zu Werkraum, Instrumenten, einem Malatelier. Kochen das Mittagessen gemeinsam und können im Makerspace ihre eigenen Projekte mit 3D-Drucker und Laser umsetzen.

Das alles ohne Noten. Hanna Landolt sagt: «Die Beziehung leidet unter Noten. Wenn ich von einer Lehrperson bewertet werde, gehe ich nicht zu ihr, wenn ich ein Problem habe.» Lernen aber brauche Vertrauen – besonders das Vertrauen, nicht bewertet zu werden. «Bei uns soll jedes Kind mit seinen einzigartigen Fähigkeiten geschätzt sein.»

Vorstoss an Glarner Landsgemeinde

Das Lernhaus Sole ist eine Privatschule. Und Privatschulen sind teuer. Ziel der Landolts ist, dass ihre Schule für alle erschwinglich wird. Darum sammeln sie gerade auf einer Crowdfunding-Plattform Geld. Kommt eine Million zusammen, wäre die Bildung des Lernhauses Sole für alle Schülerinnen während zwei Jahren kostenlos – genauso wie die Volksschule. Längerfristig streben sie aber auch hier einen Systemwechsel an und arbeiten deshalb an einem Vorstoss für die Glarner Landsgemeinde. Sie fordern: freie Schulwahl für alle. Ihr Vorbild: Schweden. Dort sind alle Schulen gleichwertig und werden vom Staat bezahlt.

Volksschule inspirieren

Wichtig ist den beiden, mit ihrer Schule nicht ein einzigartiges Projekt zu schaffen. Sie wollen Leuchtturm sein in der Bildungslandschaft Schweiz. Wollen andere dazu inspirieren, alternative Bildungsprojekte umzusetzen. Und vor allem auch der Volksschule zeigen, dass eine andere Bildung möglich ist. «Wir wollen die Schule der Zukunft vorleben und so der Volksschule Konzepte anbieten, die sie ebenfalls umsetzen kann.» Ihr oberstes Ziel: Jedes Kind soll sich morgens freuen, zur Schule zu gehen. Aktuell sind acht Lernbegleiter dafür zuständig. Niemand arbeitet Vollzeit. Ausser der Schulleiterin Hanna Landolt.

Nochmals zurück zur Aussage, dass das Schweizer Schulsystem die Kinder für die Vergangenheit ausbilde. Nils Landolt sagt: «Corona hat uns klar gezeigt, wie schnell diese Welt ist.» Was in der zukünftigen Welt gefragt sei, seien Kreativität, Kollaboration, Kommunikation und kritisches Denken. «Diese Kernkompetenzen sind im heutigen Schulsystem nicht gefragt.» Die Kinder müssen ausführen, was ihnen gesagt wird. In der Wirtschaft aber sind dann wiederum Arbeitskräfte gefragt, die neue Lösungen finden, zusammenarbeiten und anpassungsfähig sind. «Woher sollen diese Fähigkeiten kommen, wenn Kinder in der Schule lernen, angepasst zu sein und das zu lernen, was ihnen gesagt wird, um die vorgegebenen Tests zu bestehen?» Überhaupt: Jobs, bei denen stur umgesetzt werden müsse, was eine Vorgesetzte sage, würden durch die Digitalisierung verschwinden.

Bewilligung vorerst für zwei Jahre

Am Ende ist mit der kleinen Schule von Mollis also eine grosse Bildungsrevolution geplant. Eine friedliche, die Freude am Lernen bringen soll, die Lehrer von der Bürokratie erlöst und ihnen Zeit gibt, die Kinder zu Menschen zu machen, die in der Welt von morgen bestehen können. Vorerst nur als Primarschule. Die Oberstufe ist aber in Planung. Und das ist noch nicht alles: Das Lernhaus Sole soll auch ein Ort für Erwachsene sein. Sie sollen ihre Ideen einbringen können und zusammen mit den Kindern an Lösungen tüfteln. So sollen Schule und Wirtschaft nicht getrennt sein, sondern ineinander überfliessen. Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Landolts haben eine begrenzte Zeit, um zu beweisen, dass es funktioniert – zwei Jahre läuft die Bewilligung der Glarner Bildungsbehörde.

Die andere Bildung

Die Stiftung Schulwandel.ch will Menschen in der Schweiz verbinden, die sich für eine andere Art des Lernens engagieren. Am Montag, 9. August, um 20.00 Uhr beantwortet
der Stiftungsrat online Fragen zu seiner Vision einer zukunftsgerichteten Bildung.
Mehr Informationen zur Schule in Mollis GL auf: Lernhaussole.ch.

Die Stiftung Schulwandel.ch will Menschen in der Schweiz verbinden, die sich für eine andere Art des Lernens engagieren. Am Montag, 9. August, um 20.00 Uhr beantwortet
der Stiftungsrat online Fragen zu seiner Vision einer zukunftsgerichteten Bildung.
Mehr Informationen zur Schule in Mollis GL auf: Lernhaussole.ch.

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