Werden Kinder heute (zu) spät trocken?
Zahlen, die das für die Schweiz belegen würden, gibt es nicht. Anzeichen schon. Mitte Juni berichtete die «SonntagsZeitung» über eine Infoveranstaltung im Aargau. In ihrem Rahmen werden Eltern angehender Primarschüler darauf hingewiesen, dass ihre Kinder bei Schulbeginn trocken sein müssen, was offenbar nicht selbstverständlich ist. Das macht nicht nur Lehrpersonen nervös, sondern auch die betroffenen Familien.
Welche Faktoren können das Trockenwerden verzögern?
Dass Windeln in Form von immer bequemeren und grösseren Modellen auf dem Markt kommen, könnte eine Rolle spielen. 1998 kam die erste Grösse-6-Pampers heraus – zu diesem Zeitpunkt die grösste Wegwerfwindel im Handel. Inzwischen reicht die Skala bereits bis 8. Die Hauptschuld, wenn Kinder spät trocken werden, tragen in den Augen zahlreicher Fachpersonen jedoch Eltern, die ihre Töchter und Söhne nicht frühzeitig dazu animieren, aufs Töpfchen zu gehen. Kinderarzt Oskar Jenni (56), sieht das kritisch. «Kinder geben in der Regel im 2. oder 3. Lebensjahr von sich aus Zeichen, dass sie bereit für das Töpfchen sind», sagt der Leiter der Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich gegenüber Blick.
Ab wann lässt sich das Trockenwerden beschleunigen?
Ein Grossteil der Fachpersonen, die sich mit dem Thema befassen, geht davon aus, dass sich das Trockenwerden erst ab dem Moment beschleunigen lässt, in dem Kinder sich für die Toilette zu interessieren beginnen und nach dem Töpfchen fragen. Gemäss der Zürcher Longitudinalstudien (Langzeitstudien), die Kinderarzt und Autor Remo Largo (1943 –2020) zwischen 1954 und 2002 leitete, geschieht das frühestens im Alter von 12 Monaten. Rund um die Phase, in der Kinder erstmals eine Eigeninitiative zeigen, beginnt auch die Phase, in dem Kinder ihren Darm und ihre Blase kontrollieren können. Dazu müssen ihr Nervensystem ausreichend entwickelt und andere körperliche Voraussetzungen erfüllt sein. Meistens geschieht das in folgender Reihenfolge:
1. Kinder können tagsüber mit dem Pinkeln warten, bis sie auf einem Töpfchen oder WC sitzen.
2. Kinder können dem Stuhldrang standhalten.
3. Kinder können nachtsüber ihre Blase kontrollieren. Erst wenn sie nach dem Aufwachen auf ein Töpfchen oder WC sitzen, fliesst der Urin.
Gemäss den Zürcher Longitudinalstudien werden die meisten Kinder im dritten und vierten Lebensjahr trocken und sauber. 3 bis 5 Prozent nässen ab dem fünften Lebensjahr tagsüber noch ein und 20 Prozent sind nachts noch nicht trocken, wenn der Kindergarten beginnt.
Kinderarzt Oskar Jenni (56) leitet seit bald zwanzig Jahren als Nachfolger von Remo Largo (1943–2020) die Abteilung für Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich und ist Professor für Entwicklungspädiatrie an der Universität Zürich. Zudem leitet er die Zürcher «Akademie. Für das Kind. Giedion Risch». Das Ziel der Akademie ist, in der Gesellschaft mit unterschiedlichen Projekten das Wissen über die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu verankern.
Kinderarzt Oskar Jenni (56) leitet seit bald zwanzig Jahren als Nachfolger von Remo Largo (1943–2020) die Abteilung für Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich und ist Professor für Entwicklungspädiatrie an der Universität Zürich. Zudem leitet er die Zürcher «Akademie. Für das Kind. Giedion Risch». Das Ziel der Akademie ist, in der Gesellschaft mit unterschiedlichen Projekten das Wissen über die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu verankern.
Wie lässt sich das Trockenwerden beschleunigen?
Sobald das Kind Eigeninitiative zeige, sagt Jenni, müssen es die Eltern in diesem Reifeprozess unterstützen. «Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Eltern das heute häufiger verpassen als früher und ihre Kinder deshalb weiterhin auf Windeln angewiesen sind.» Unterstützen lassen sich Kinder, indem man sie beim Gang aufs Töpfchen lobend begleitet oder – wenn das Kind schon älter ist – einen Aufsatz fürs Erwachsenen-WC kauft und einen Hocker davorstellt, damit das Kind auf die Schüssel steigen kann. Oder man geht als gutes Vorbild voran und lässt die Tochter oder den Sohn zuschauen, wenn man selbst mal muss. Eine andere Möglichkeit ist sogenanntes Töpfchentraining – wobei die Methode vor allem Personen propagieren, die daran glauben, dass die Eigeninitiative nicht von alleine kommt, sondern am besten so früh wie möglich provoziert werden muss.
Wie funktioniert Töpfchentraining
Eine gängige Variante besteht darin, das Kind zu Hause mehrere Stunden Unterhosen statt Windeln tragen zu lassen. In dieser Zeit setzt man es in 20-Minuten-Abständen aufs Töpfchen – wo es zum Beispiel ein Bilderbuch anschauen kann – egal, ob etwas kommt oder nicht. Das Ziel ist, dass die Unterhose in den zwanzig Minuten trocken bleibt.
Wie sicher ist es, dass Töpfchentraining etwas bewirkt?
Im Rahmen der Longitudinalstudien verglich Remo Largo Familien, die früh mit Töpfchentraining begannen, mit solchen, die es später oder gar nicht in Angriff nahmen. Er kam zum Ergebnis, dass die früh trainierten Kinder nicht schneller trocken wurden als die spät oder gar nicht trainierten. Töpfchentraining kann dem Kind allenfalls lernen, solange zu sitzen, bis etwas kommt. Wenn mehrere Kinder daran beteiligt sind – zum Beispiel in einer Kita – kann sich der Nachahmungseffekt auszahlen. Dass Töpfchentrainnig einen Einfluss auf Blasen- und Darmkontrolle hat, schliesst Jenni aus. Das Training sei ein Relikt aus einer Zeit, als Erziehung zu grossen Teilen darin bestanden habe, Kinder so schnell wie möglich an die Regeln der Erwachsenenwelt anzupassen. «Das entspricht nicht mehr der Art, wie viele Eltern heute ihre Kinder grossziehen wollen.»