Darum gehts
Sind die Kinder klein, kann man sich kaum vorstellen, jemals wieder ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Während man übernächtigt auf dem Spielplatz dafür sorgt, dass der Nachwuchs nicht vom Klettergerüst stürzt und sich daheim die Wäsche türmt, freut man sich auf die Zukunft. Nun, diese Rechnung machen viele Kleinkindeltern aber ohne die Realität. Geht es nämlich auf die Selbständigkeit zu und Kinder wollen und sollen flügge werden, sind es dann oft die Mütter und Väter, die Mühe haben, loszulassen.
Ein Thema, das Gerlinde Unverzagt (64), Buchautorin und vierfache, alleinerziehende Mutter von heute erwachsenen Kindern, nur zu gut kennt. Die Deutsche, die unter anderem das Buch «Generation ziemlich beste Freunde» geschrieben hat, hat einen Weg gefunden, der herrlich ehrlich ist und besorgten Eltern helfen kann.
Blick: Sagen Sie, Frau Unverzagt, wie lässt man erwachsene Kinder los?
Unverzagt: Gegenfrage: Wann ist ein Kind erwachsen?
Als Mutter eines Vierjährigen habe ich das Gefühl, mein Baby wird nie erwachsen.
Natürlich. Das geht mir mit all meinen vier Kindern so. Und die sind offiziell schon lange erwachsen. Die vier haben mich aber vieles gelehrt: So geht es gar nicht primär um das Alter der Kinder, sondern um das ganze Kind. Meiner einen Tochter hätte ich mit 14 längst nicht alles erlaubt, was ich meiner anderen Tochter im gleichen Alter durchgelassen hätte.
Wieso denn das?
Die eine war schon immer so ein Feierbiest, die andere war viel vernünftiger. Die Vernünftige hat mich sogar mal gebeten, ihr eine Fete zu verbieten, damit sie einen offiziellen Grund hat, abzusagen.
Wenn ich mir vorstelle, dass ich mein Kind irgendwann ins Partyleben ziehen lassen muss, wird mir schlecht.
Das verstehe ich sehr gut. Die Mühe mit dem Gedanken darf sein. Mir hat geholfen, an meine eigene Jugend zu denken. Wie war das damals, als ich im Alter meiner Kinder war, mit Sex, Drogen, Partys? Das hat mich milder gestimmt. Die Mühe und die Ängste waren dann nicht komplett weg, aber mir war bewusst, dass das Selbständigwerden etwas Gutes ist.
Keine Nächte, in denen Sie wach gelegen und gewartet haben, bis alle vier Schäfchen sicher zu Hause angekommen sind?
Logisch! Ich habe mir aber immer grosse Mühe gegeben, meinen Kindern nicht das Gefühl zu geben, dass ich ihnen nicht vertraue. Ich bin mit meinen Gefühlen stets bei mir geblieben und habe ihnen erklärt, dass sie das wertvollste und liebste sind, das ich habe, und dass ich deshalb Angst habe um sie.
Was kann man gegen diese Angst tun, ohne die Kinder zu belästigen?
Das wichtigste finde ich die Kommunikation und den stetigen Austausch mit den Kindern. Kinder sind uns wohlgesinnt. Wenn wir unsere Angst erklären, sind sie bereit, uns entgegenzukommen. Sich regelmässig per Whatsapp zu melden zum Beispiel, finde ich eine gute Lösung. Bei sehr freiheitsdurstigen Kindern von sehr ängstlichen Müttern kann es auch eine gute Option sein, einen 50-Franken-Schein klitzeklein zu falten und dem Kind zuzustecken – eine Summe, die es erlaubt, im üblichen Partyradius notfalls mit dem Taxi nach Hause zu fahren. Und nur dafür zu verwenden. Als Eltern, die mal im Gedankenkarussell gefangen sind, malen wir uns die schlimmsten Szenarien aus. Dabei ist die Welt nicht per se ein böser Ort. Wir schauen manchmal zu viele Krimis und vergessen, dass ein schlimmes Verbrechen nur ganz selten passiert. Und dann braucht es noch eine gute Portion Urvertrauen in das Gute. Und ein sicheres und gutes Fundament zu Hause.
Was heisst das?
Es muss uns bewusst sein, dass Kinder auch mal zu spät oder betrunken nach Hause kommen. Mein Sohn war mal auf einem Punkkonzert. Ich holte ihn hackedicht auf dem Polizeiposten ab. Ich war superlieb und hab mich rührend um ihn gekümmert. Das ernste Gespräch führten wir am nächsten Tag. Aber wissen Sie was? Eigentlich hatte ich viel Verständnis. So ein lautes Punkkonzert hätte ich auch nicht ohne Alkohol geschafft.
Wann kann und soll man die Freiheiten erweitern?
Wenn sich das Kind gut an Abmachungen hält und pünktlich nach Hause kommt, finde ich es legitim, die Leinen lockerer zu machen. War es drei Monate lang pünktlich um 23 Uhr daheim, ist es doch vollkommen okay, den Ausgang bis Mitternacht zu verlängern.
Reden wir über die ersten Ferien ohne Eltern.
Auch hier kommt es auf das Kind an. Dem einen hätte ich die Ferien mit Freunden schon mit 17 erlaubt, dem anderen nicht. Am Ende komme ich immer zum gleichen Schluss: Man muss sein Kind gut kennen und stets im Austausch mit ihm sein.
Wie stehen Sie zu Social Media?
Diesbezüglich fanden mich meine Kinder stets sehr uncool. Ich habe ihre Handyzeiten streng überwacht. Dieses ganzen Social-Media-Zeugs find ich nicht nur scheisse, sondern gefährlich. Ich erinnere mich an einen Mobbing-Fall, in den meine Tochter verstrickt war. Sie hat selten so eine Standpauke von mir bekommen wie damals. Sie musste sich entschuldigen und sehr genau reflektieren, was sie da angestellt hat. Mit Social Media ist es wie auf der Strasse: Ich drücke meinen Kindern auch keinen Autoschlüssel in die Hand und setze sie ohne Führerschein in ein Auto.
Danke für das Gespräch. Ich blicke der Pubertät meines Sohnes nun gelassener entgegen...
Das freut mich. Sie können sich sogar darauf freuen. Das Flüggewerden ist eine intensive, spannende und schöne Zeit.