Nach einer langen Bank-Karriere hatte Reto Erdin (56) genug. Fragen über den Sinn des Lebens und wofür er sich eigentlich tagelang abrackerte, liessen ihn nicht mehr los. Ein wichtiger Ankerpunkt war aber gesetzt: seine Passion für Bordeaux-Weine. Wieso also keine Ausbildung als Winzer machen und ein Weingut kaufen?
Und so liess sich Erdin in der Schweiz zum Bio-Winzer ausbilden. «Andere kaufen einen Sportwagen oder suchen sich eine jüngere Partnerin», sagt Erdin zu Blick. Nach der erfolgreichen Ausbildung machte er sich erst in der Schweiz und später auch im Bordeaux auf die Suche nach einem eigenen Weingut.
Erdin rettet die Domaine Léandre-Chevalier
Auf einer Zürcher Weinmesse suchte Erdin nach den Weinen der Domaine Léandre-Chevalier, welche er sehr gerne mochte. Das Bordeaux-Weingut sei leider Konkurs gegangen, liess man ihn wissen. «Zum Glück hatte ich eine Midlife-Crisis!», meint Erdin. Sofort setzte er sich in den nächsten Flieger nach Bordeaux und traf den Winzer Dominique Léandre-Chevalier (60).
«Ich hatte keinen Businessplan, aber das Bauchgefühl hat einfach gepasst und ich wollte dieses wunderbare Weingut unbedingt vor der Zerschlagung retten», so Erdin zu Blick. Der passionierte Reiter war auch deshalb vom Weingut so angetan, weil man dort zum Pflügen ausschliesslich mit Pferden arbeitet.
Nach einigen bürokratischen Hürden beim lokalen Nachlassverwalter hatte sich Erdin seinen Traum vom eigenen Weingut erfüllt. Ein Grund, weshalb das Weingut Konkurs anmelden musste, waren die vergleichsweise kleinen Traubenerträge, also wenig Wein pro Hektar Rebland.
Erdins Winzer Dominique hat seine ganz eigene Philosophie: Anstatt einen oder zwei Weine möchte er möglichst viele verschiedene, hochwertige Terroir-Weine keltern. «Wir machen auch heute noch das pure Gegenteil von einem Industriewein und kommerziell so ziemlich alles falsch», gibt er zu.
«Hoffentlich schreiben wir in ein paar Jahren schwarze Zahlen»
Auch aktuell macht Erdin mit seinem Weingut finanziell einen Verlust. Alte Schulden des Weinguts mussten beglichen werden, und gleichzeitig verlangte das Streben nach höchster Qualität nach neuen Investitionen.
Das scheint ihn aber nicht gross zu stören. Im Gespräch mit Blick sprüht Erdin nur so von Passion und Lebensfreude. «Wenn ich auf meinem Weingut bin, bin ich glücklich.» Dieses Glück scheint er auch über die Landesgrenze zurück in die Schweiz mitzubringen.
Erdins Weine sind ein absoluter Geheimtipp
Bei Erdin zu Hause im Kanton Aargau probiere ich sämtliche Weine der Domaine Léandre-Chevalier des aktuellen Jahrgangs. Meine Erwartungen habe ich, wie ich das meistens mache, tief gehalten, um nicht enttäuscht zu werden. Was mir Erdin aber alles zum Probieren gab, haute mich fast aus den Socken.
Der weisse Le Séducteur (Blanc sec fût), ein reinrassiger, trockener Sauvignon Blanc aus bis zu 60-jährigen Reben, vereint intensive Noten von Stachelbeere, Zitrone, Vanille, Rauch und punktet mit einem samtigen und gleichzeitig rassigen Gaumen. Ebenfalls grandios war der Blanc de Noir Fût, ein seltener Weisswein aus den roten Traubensorten Cabernet Sauvignon und Merlot.
Das gewaltige Potenzial wird mit den Rotweinen bestätigt. Ich staune ab dem Le Gentilhomme, einer Cuvée aus 80 Prozent Merlot und 20 Prozent Cabernet Sauvignon. Nicht nur, weil der Wein grossen Trinkspass bietet, sondern auch, weil er im Weinhandel für unter 20 Franken pro Flasche erhältlich ist. Auch vom etwas teureren, aber immer noch sehr fair kalkulierten Joyau bin ich begeistert.
Konkurrenz für Château Petrus & Co.
Für den etwas grösseren Geldbeutel keltert Erdin drei weitere Rotweine: zwei reinsortige Petit Verdots sowie den Merlot 33333. Bei Letzterem arbeitet das Weingut mit einer extrem dichten Bepflanzung im Rebberg: 33’333 Rebstöcke pro Hektar mit einer Ernte von keiner bis drei Weintrauben pro Rebstock. Dieser betörende Traumwein kann es qualitativ mit den ganz grossen Namen im Bordeaux aufnehmen.
Erdin hat sich mit dem Kauf der Domaine Léandre-Chevalier einen Traum erfüllt. Ohne seinen mutigen Einsatz wäre das Weingut wohl zerschlagen und anderweitig verkauft worden. Für seine geschäftliche und private Zukunft muss man ihm einfach nur das Beste wünschen.