Huch, was macht denn der Polizist da? Um halb acht Uhr morgens auf dem Schulgelände. Und warum sind denn schon so viele Kinder hier? Der Unterricht fängt doch erst in 40 Minuten an. «Sie kommen, um vor der Schule ein bisschen zu spielen», wird man uns später sagen. Was es mit der Polizei auf sich hat, werden wir erst am Ende unseres Besuchs erfahren.
Primarschule Elgg, zwölf Kilometer östlich von Winterthur, fast an der Grenze zum Kanton Thurgau, an einem Dienstagmorgen. Letzte Woche vor den Sommerferien. Wir warten auf Britt Schefer. Die 42-Jährige ist Lehrerin an dieser Schule. Die Schule und der Lehrberuf sind ihre zweite Wahl. Britt Schefer ist Quereinsteigerin.
Mehr zum Schulbeginn
So nennt man Lehrer, die sich nicht direkt nach der Matura für den Beruf entscheiden, sondern später. Später heisst, sie sind über 30 Jahre alt, haben mehrere Jahre Berufserfahrung – oft sogar einen Universitätsabschluss. «Non traditional students» werden sie auch genannt, und sie wurden aus der Not geboren. Die Not: Wir haben in der Schweiz zu wenig Lehrer. Für das neue Schulsemester fehlt eine Vielzahl an qualifizierten Lehrpersonen. Und zwar auf allen Stufen. Über die Hälfte der Schulleitenden in der Deutschschweiz erhalten zu wenige Bewerbungen für eine solide Stellenbesetzung, in der Westschweiz sind es sogar 70 Prozent. Eine Massnahme gegen den Lehrermangel sind seit 2012 verkürzte Studiengänge, um Personen aus anderen Berufen für den Lehrerberuf zu gewinnen. Personen wie Britt Schefer.
Mehr Quereinsteiger
Seit ein paar Jahren hat man das Gefühl, dass immer mehr Lehrer werden. Lehrer auf dem zweiten Weg. Übergreifende Daten von allen pädagogischen Hochschulen in der Schweiz fehlen noch. Aber die Anzahl Studenten, die nicht über den regulären Weg das Lehrerstudium aufnehmen, hätten in den letzten Jahren tendenziell zugenommen, sagt Martina Weiss von Swissuniversities, dem Verein der Schweizerischen Hochschulen.
Bei der Pädagogischen Hochschule (PH) Zürich, wo auch Schefer ihre Ausbildung macht, ist die Anzahl in den letzten drei Jahren stabil geblieben, einen leichten Anstieg gab es von 2018 auf 2019. Die Quereinsteiger machen rund 10 Prozent aller Studenten aus. Ihr Durchschnittsalter: 40.
Mit 50 Prozent hat die PH Zug etwa einen grossen Anteil an Studierenden, die über den zweiten Bildungsweg Lehrer werden. «In den letzten drei Jahren hat der Anteil an Quereinsteigenden um 5 Prozent zugenommen», sagt Studienleiter Simon Bieli. Auffällig: Bei den Quereinsteigern ist der Männeranteil deutlich höher (30 Prozent) als bei den Studierenden, die direkt nach der Matura starten (18 Prozent).
Nicht alle PH bieten Quereinsteigerprogramme an. Zudem sind die Ausbildungen sehr unterschiedlich. An der Fachhochschule Nordwestschweiz erarbeitet man derzeit ein neues Programm für Quereinsteigende. Das Ziel: Die Studierenden arbeiten parallel zum Studium als Lehrer.
Viel Erfahrung im Gepäck
Britt Schefer aus Elgg ZH tut genau das. Sie studiert und ist 60 Prozent an der Primarschule «Im See» angestellt. Seit einem Jahr hat sie eine 6. Klasse und teilt sich das Arbeitspensum mit einer Kollegin.
Kurze, dunkelblaue Hose, rot-blau gestreiftes T-Shirt, Turnschuhe. Schefer trägt das Haar hellblond und in ihrer Nase einen kleinen, glitzernden Stecker. Zügig läuft sie die Treppe zum Klassenzimmer hinunter. Draussen an der Wand hängt der Stundenplan der 6. Klasse. Ihrer Klasse. An der Türe kleben diverse Zettel. Unter dem Satz «In diesem Zimmer bist du» stehen Worte wie «willkommen», «einzigartig», «wertvoll».
Es sei schon ziemlich leer geräumt, sagt Schefer. Denn nach den Sommerferien kehren die 6.-Klässler nicht zurück, sondern ziehen weiter. Doch das Schulzimmer ist immer noch beachtlich voll. Projektarbeiten, Duden, Deko. An der Deckenmitte hängen selbst gebastelte Wimpel an Ästen. Auf den einzelnen bunten Papierfähnchen stehen Aussagen geschrieben wie «kein Rassismus», «BLM» (Anm. d. Red. «Black Lives Matter») oder «we are future».
Um 8.10 Uhr ertönt die Klingel. Schulbeginn. 20 Schüler und die beiden Lehrerinnen klatschen in die Hände. Morgenritual. Zwei Mathestunden haben die 12- bis 13-Jährigen an diesem Morgen. Kein Frontalunterricht, wie man das von früher kennt. Die Schüler lernen und arbeiten heutzutage oft individuell. Und so füllen die einen noch Aufgabenblätter mit Adjektiven aus, während die anderen Mathe-Übungen machen und Kopfrechnen am Tablet üben.
Schefer geht von Schüler zu Schüler und sagt Sätze wie: «An was arbeitest du?», «Dafür hättest du gestern Zeit gehabt» oder ermahnt zum sorgfältig Schreiben. Schefer sagt, dass man als Quereinsteiger bereits viel in diesen neuen, zweiten Beruf mitbringe. Mit viel meint sie Erfahrung. Lebenserfahrung. Berufserfahrung. Auch dass sie selber Kinder habe, helfe. 16, 14 und 11. Der Jüngste kommt nach den Ferien in die 6. Klasse, er sitzt gerade ein paar Schulzimmer weiter.
Gründe für die Berufswahl
Schefer hat Jus an der Uni Zürich studiert. Nach dem Abschluss arbeitete sie auf einer Vormundschaftsbehörde und bei der Stadtverwaltung Uster. Und wie kommt dann so ein Sinneswandel? Warum mit über 40 noch mal eine andere Ausbildung? Sie sei ja schon in der Schulpflege gewesen, hätte die eigenen Kinder in der Primarschule gehabt und sei so auf den Geschmack gekommen. «Ich wollte mehr Abwechslung», sagt Schefer. «Nicht nur am PC sitzen.»
«Sinnhafte Tätigkeit» ist der Hauptgrund, den Quereinsteiger in Umfragen nennen. «Neue Herausforderung», «Arbeit mit Menschen», «mehr Selbständigkeit». Aber auch die Pensen Flexibilität und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Arbeitsplatzsicherheit und das Einkommen sind weitere Gründe für den Lehrerberuf.
Die Situation des Lehrermangels hat sich nicht verbessert. Im Juni gibt der Lehrerverband eine Medienmitteilung heraus und schreibt darin: «Der Handlungsbedarf ist dringender denn je.»
Die steigenden Schülerzahlen und anstehende Pensionierungen vieler Lehrpersonen würden die Situation verschärfen. Zudem wird der Lehrberuf immer mehr zum Teilzeitjob. Das führt auch dazu, dass Quereinsteiger wie Britt Schefer bereits früh vor einer Klasse stehen und unterrichten. Der «Aargauer Zeitung» sagte der Vizepräsident des Lehrerverbandes letztes Jahr, Quereinsteiger brächten zwar neue Impulse, aber kämen auch an die Grenze ihrer Belastbarkeit, weil ihnen die nötige Ausbildung fehle.
Auch Lilian Baltensperger (36), die Stellenpartnerin von Schefer, findet es richtig, dass die beiden Frauen sich die Klasse teilen. Dass Schefer, die erst seit kurzem unterrichtet, eine erfahrene Lehrperson an ihrer Seite hat. Baltensperger hat klassisch nach der Matura den Beruf erlernt. Sie unterrichtet seit zehn Jahren.
Hohe Motivation, viel Praxis
Dafür haben die Quereinsteiger alle etwas Wichtiges gemeinsam. «Die Studenten sind extrem motiviert», sagt Schefer. Schliesslich sind alle über 30 und machen noch einmal einen Bachelor. Nachdem sie bereits – im Schnitt zwölf Jahre – einen anderen Beruf ausübten. Das sei schon eine Gesamtbelastung: die Familie, die Ausbildung und die Schule, sagt Schefer.
An der PH Zürich, wo Schefer Ende dieses Jahres abschliessen wird, legt man Wert auf die Praxis. «Der berufsintegrierte Anteil ist ein zentraler Bestandteil der Studiengänge Quereinstieg an der PH Zürich. Mit diesen Studiengängen leisten wir einen Beitrag zur Deckung des hohen Bedarfs an Lehrpersonen», sagt Rektor Heinz Rhyn. Ziel sei, dass die Studierenden möglichst rasch im Schulfeld eingesetzt werden können.
Im Januar 2018 startete Schefer mit der Ausbildung zur Lehrerin, im selben Monat stand sie das erste Mal vor einer Schulklasse. In Pfungen ZH. Drei Praktika absolviert man im ersten Studienjahr, je drei Wochen. Ab dem dritten Semester unterrichten die angehenden Lehrer in einem Pensum von 40 bis 60 Prozent und studieren parallel an der PH. Das Ziel: schnell vor einer Klasse stehen und Stunden übernehmen. Schliesslich gilt es den Lehrermangel eines ganzes Landes zu beheben.
Man merke gar nicht, dass dies Frau Schefers erste Klasse sei, sagt ihre Schülerin Debora. Sie sei lustig und gut, sagt Alessandro. Debora findet, dass Frau Schefer locker ist. Aber manchmal überziehe sie auch ein bisschen in die Pause. Und die ist den Schülern heilig. Kaum klingelt es, rennt eine Gruppe Jungs aus dem Schulzimmer in den Flur und die Treppe hinunter. Die Mädchen klären auf: «Unten steht ein Töggelichaschte.»
Wie Corona den Schulalltag beeinflusst
Schefer sagt über ihre erste eigene Klasse: «Die würde ich auch noch behalten.» Aber sie muss sie ziehen lassen. Nach den Sommerferien, am 17. August, bekommt die 42-Jährige eine 4. Klasse. Darauf bereitet sie sich jetzt vor. Den Ruf der Lehrpersonen, sie hätten so viel frei, findet sie ungerecht. Sie hätten ein riesiges Engagement. Gerade in den letzten Monaten hätten sie ihr Bestes gegeben. «Die Corona-Zeit war sehr intensiv», sagt Schefer. Wie es nach den Sommerferien weitergehen wird? «Wir werden immer noch keine Hände schütteln, Hände waschen und weitere Hygienemassnahmen umsetzen», sagt Schefer. Die Schule erarbeitet gerade ein Schutzkonzept für den Schulstart. Aus Erfahrung wisse Schefer, dass Flexibilität in dieser ausserordentlichen Situation unumgänglich ist. Darauf stelle sie sich ein. Schefer sagt: «Wir bleiben flexibel.»
Dann verabschiedet sich die Lehrerin. Die Schüler sind schon längst weg. Die 1.-Klässler haben einen Znüni für die Grossen vorbereitet. Zum Abschied.
Wir verabschieden uns auch. Auf dem Schulgelände entdecken wir wieder den Polizisten. Dieses Mal mit Velohelm. Ein paar Schüler stehen mit ihren Velos in einer Reihe vor ihm. Verkehrsschule. Der Polizist zeigt den Kindern, wie sie sicher zur Schule radeln.