Wie Viola Amherd den EU-Deal vorantreibt
Ihre nächste Mission: Brüssel

Spätestens im November soll sich die Schweiz mit der Europäischen Union einigen. Das Ziel gibt die Landesregierung vor. Die VBS-Chefin will damit ihr Präsidialjahr krönen.
Publiziert: 25.08.2024 um 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 25.08.2024 um 11:15 Uhr
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Enge Banden: Bundespräsidentin Viola Amherd (l.), und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 18. März 2024 in Brüssel.
Foto: Keystone

Auf einen Blick

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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Der Spott ist der Verblüffung gewichen. Was musste Viola Amherd (62) zuvor nicht alles an öffentlicher Kritik einstecken: Personalflops, Pannen im Nachrichtendienst und ihr Übermut bei der Bürgenstock-Konferenz wurden der Oberwalliserin um die Ohren gehauen. Zu einem Teil war der Tadel berechtigt, in gewissem Masse aber auch vom Jagdtrieb gegen eine Magistratin befeuert, der die Statur, die rhetorische Geschliffenheit und das Charisma weltläufiger Staatenlenker fehlt.

Vielleicht jedoch ist es gerade die entscheidende Stärke der Mitte-Politikerin, dass sie in der ersten Hälfte ihres Präsidialjahrs unterschätzt wurde. Jedenfalls zimmerte sie still und leise, fernab des medialen Halalis, mit den ihr verfügbaren Mitteln eine Politik ganz nach ihren Vorstellungen. Sie forcierte eine Annäherung an die Nato und setzte sich neutralitätspolitisch dem Gegenwind von rechts aus.

Und nicht nur das: Amherd hat sich als eigentlicher Euroturbo der Landesregierung entpuppt, als treibende Kraft hinter einer institutionellen Einigung mit der Europäischen Union.

Nach ihr übernimmt Keller-Sutter

Bundesratsnahe Kreise bestätigen dies gegenüber SonntagsBlick: Sie gibt massgeblich den Takt vor; und die Unterhändler wissen sie hinter sich, wenn sie am Verhandlungstisch in Brüssel sitzen. Vor allem aber nutzt Amherd parallel zu den Gesprächsrunden auf Diplomatenebene ihren direkten Draht zu EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (65). Die beiden Christdemokratinnen pflegen seit ihren gemeinsamen Tagen als Verteidigungsministerinnen einen freundschaftlichen Umgang; dieses Jahr tauschten sich die beiden beim WEF und an der Ukraine-Konferenz aus.

Als glanzvollen Abschluss, ja als Vermächtnis ihres Präsidialjahrs will Amherd unbedingt die Einigung vorlegen und damit den Schweizer Firmen den Zugang zum EU-Binnenmarkt nachhaltig sichern können, bevor die weitaus EU-kritischere Finanzministerin Karin Keller-Sutter (60) nächstes Jahr nachrückt. Die Freisinnige hatte 2021 massgeblich am Abbruch des Rahmenabkommens mit Brüssel mitgewirkt.

Lenkt Brüssel bei der Schutzklausel ein?

Ob der federführende Aussenminister Ignazio Cassis (63) nun als Nutzniesser oder als Verlierer von Amherds Effort dasteht, ist Ansichtssache. In seinem Lager wird betont, dass der EDA-Vorsteher dasselbe Ziel verfolgt und im Vorfeld den Boden bereitet hat, damit das Geschäft den Bundesrat übersteht – für eine Mehrheit reichen die Stimmen von Cassis und Amherd sowie der beiden Sozialdemokraten. Um eine böse Überraschung zu verhindern, versucht Cassis penibel, alle Player einzubinden. So liess er Ende 2023 in einem Akt der Transparenz das Ergebnis der Vorverhandlungen mit Brüssel veröffentlichen, das sogenannte «Common Understanding».

Ausserhalb von Cassis’ Entourage hingegen wird die Situation eher so gedeutet, dass die VBS-Chefin dem Tessiner europapolitisch das Heft entreisst und ihm vor der Sonne steht.

Gemeinsam ist beiden Lagern die Prognose, dass der Durchbruch im Idealfall bis November gelingen soll. Und es sind bereits optimistische Töne zu vernehmen – die EU-Kommission sei mindestens so interessiert an einem Abschluss, heisst es etwa, man sei auf der Zielgeraden, auch wenn es möglicherweise im Stromabkommen oder bei der Migration noch letzter Klärungen bedürfe. Einige mit dem Dossier Vertraute wollen gar wissen, dass die EU im Bereich Zuwanderung Entgegenkommen signalisiert. Konkret hiesse dies, dass Brüssel plötzlich mit der Idee einer Schutzklausel leben könnte.

Am Horizont lauert die SVP-Zuwanderungs-Initiative

Wie viel davon taktische Schönfärberei ist oder den tatsächlichen Positionen entspricht, ist schwierig zu sagen – in Bundesbern dominiert in diesem Dossier der Konjunktiv. Völlig offen ist auch, welche Gegenleistung die EU verlangt, denkbar wären weitere Kohäsionsmilliarden oder eine Öffnung des Schienennetzes.

Eine wichtige Rolle spielen dürfte die SVP-Initiative gegen Zuwanderung, die sogenannte Nachhaltigkeits-Initiative («Keine 10-Millionen-Schweiz!»), die am Horizont lauert. Die neue Migrationskritik soll der SVP den Wind aus den Segeln nehmen. Vor diesem Hintergrund sind auch Aussagen von Mitte-Präsident Gerhard Pfister (61) zu werten, der kürzlich in einem Interview den Tabubruch beging, im Freizügigkeitsabkommen mit der EU eine Zuwanderungsklausel zu fordern. Derweil machen alternative Rezepte die Runde, etwa ein Gegenvorschlag zum SVP-Volksbegehren oder eine einseitige Schutzklausel im Freizügigkeitsabkommen, die ab zehn Millionen Einwohnern greifen soll. Dass das Thema Zuwanderung eine der ganz grossen Knacknüsse auf der Agenda der Nation sein wird, ist von links bis rechts jedenfalls Konsens.

Am Ende wird das Volk entscheiden

Auch ohne die SVP-Initiative gibt es noch zahlreiche Hürden für ein neues bilaterales Regime mit der EU. Ende August, Anfang September gehen die Gesprächsrunden weiter. Sollte es dereinst zu einem Deal kommen und würde dieser den Bundesrat passieren, käme die Botschaft ins Parlament. Dort ginge dann das Spiel zwischen den Kammern und den Kommissionen los – schliesslich wird das Volk das letzte Wort haben.

Sowohl Amherds als auch Cassis’ Departement äussern sich auf Anfrage nicht zu den laufenden Verhandlungen.

Ob sich der Souverän von Amherd und ihren Mitstreitern überzeugen lassen wird, steht noch in den Sternen. Es sind nicht wenige, die an einem Erfolg zweifeln. Aber unterschätzt wurde sie schon öfter.

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