Auf einen Blick
- Schweiz und EU im Nervenkrieg um Abkommen
- In der Verwaltung wird über einen baldigen Durchbruch frohlockt
- Economiesuisse steigt mit Pro-Kampagne in die Debatte ein
Nach 55 Minuten und 30 Sekunden beginnt Petros Mavromichalis (60) an seinem Handy herumzufummeln. Mitten in der Sendung. Die Geste des EU-Botschafters ist ein Affront gegenüber Urs Wietlisbach (63), der gerade gegen Brüssel vom Leder zieht.
Wietlisbach wirbt derzeit unermüdlich für die EU-kritische Kompass-Initiative, die er zusammen mit den anderen beiden Gründern des Private-Equity-Riesen Partners Group ins Leben gerufen hat, Alfred Gantner (56) und Marcel Erni (59). So auch am Dienstag im SRF-«Club».
Die Livesendung mit dem undiplomatischen Diplomaten ist ein Sinnbild für die Beziehungen zwischen Europa und der Schweiz: Es herrscht Nervenkrieg.
Unter Hochdruck wird in Brüssel über eine Neuauflage eines institutionellen Abkommens verhandelt; der Bundesrat will bis Ende Jahr ein Ergebnis vorlegen. Es geht um das Vermächtnis von Aussenminister Ignazio Cassis (62). Und um einen möglichst erfolgreichen Abschluss des Präsidialjahrs von Viola Amherd (62), die sich die Trophäe eines Deals mit der Europäischen Union sichern möchte.
Parteien droht Zerreissprobe
Glaubt man der Entourage des Aussenministers, ist man auf der Zielgeraden. Dass der Bundesrat das Thema an seiner Sitzung vom 6. November traktandiert, heizt die Spekulationen zusätzlich an. Steht ein Durchbruch kurz bevor? Gerüchten zufolge sollen sich Brüssel und Bern in einem zentralen Punkt nähergekommen sein: Demnach verzichte die Schweiz auf die Forderung nach einer Schutzklausel im Vertrag, dafür beharre die EU nicht mehr darauf, dass europäische Studenten an Schweizer Hochschulen wie Einheimische behandelt werden.
Doch der Zweckoptimismus der Bundesverwaltung dröhnt ins Leere. Die zwölf Sterne auf blauem Grund haben ihre Leuchtkraft verloren. Als letzte politische Kraft im Land verfolgen die Grünliberalen einen klaren Europakurs. Alle anderen – ausser der SVP – fürchten einen mühsamen internen Entscheidfindungsprozess, sobald das Verhandlungsresultat vorliegt. In den drei Bundesratsparteien FDP, Mitte und SP reicht das Spektrum von Euroturbos bis zu Gegnern einer institutionellen Lösung. FDP-Präsident Thierry Burkart (49), Mitte-Präsident Gerhard Pfister (62) und die SP-Spitze folgen deshalb vor allem einer Taktik: Den Ball flach halten.
Vages Bekenntnis zum «bilateralen Weg»
Das passt nicht ins Drehbuch der Wirtschaftslobby. An einer Vorstandssitzung des Dachverbandes Economiesuisse im September wurde die Forderung laut, dass endlich auch die Pro-Seite Farbe bekenne – bislang dominieren die Tycoons von der Partners Group die Bühne, die mit ihrer Initiative neue Verträge zwingend vors Volk bringen wollen.
Die Diskussion im Economiesuisse-Vorstand wirkte. In diesen Tagen startet der Dachverband eine gross angelegte Kampagne. Womit die Debatte im Endspurt Fahrt aufnimmt. «Wir spüren in der Wirtschaft eine breite Unterstützung für den bilateralen Weg. Diese wollen wir zeigen», sagt Direktorin Monika Rühl (61). Allerdings hat ihre Organisation ein Problem: «Natürlich wollen viele Mitglieder zuerst das Verhandlungsresultat sehen», so Rühl. «Trotzdem wollen wir jetzt sichtbarer werden.» Weshalb nun Inserate mit einem sehr vage formulierten Bekenntnis zum «bilateralen Weg» geschaltet werden.
Bloss: In der öffentlichen Wahrnehmung scheint die «breite Unterstützung» der Wirtschaft zu bröckeln. «Sie erodiert», verdeutlicht ein FDP-Parlamentarier. Von den Befürwortern sind neben dem Medtech-Unternehmer und FDP-Nationalrat Simon Michel (47) vor allem Verbandsfunktionäre wie Rühl oder Economiesuisse-Präsident Christoph Mäder (65) wahrzunehmen. Auch Branchenverbände wie Interpharma oder Science Industries legen sich ins Zeug. Aber gibt es noch Wirtschaftskapitäne mit nationaler Ausstrahlung, die öffentlich für Europa einstehen? Fehlanzeige.
Erinnerungen an die verlorene BVG-Reform
Rühl widerspricht: «Zahlreiche Persönlichkeiten aus der Wirtschaft stehen hinter den Bilateralen. Der Support der Wirtschaft bröckelt nicht. Eine grosse Mehrheit bei uns unterstützt die Verhandlungen.»
Andere malen dunkler: «Die Gegner haben einfache, starke Narrative», sagt ein bürgerlicher Nationalrat. «Das macht es den Befürwortern von komplexen Vorlagen so schwer.» Er erinnert an die abgelehnte BVG-Reform – wenn der Bürger bei einer Abstimmung nicht eindeutig den Vorteil eines Ja erkennt, sagt er im Zweifelsfall Nein.
Letztlich dreht sich das Drama um ein Anliegen der Wirtschaft: den Zugang zum EU-Binnenmarkt. Doch auch dieses Ziel verliert an Glanz. Krisenmeldungen wie jene der deutschen Autoindustrie sind da nicht gerade förderlich.
Ein Verdacht drängt sich auf: In der Europapolitik ist der Kaiser längst nackt. Nur traut sich keiner, es zu sagen.
FDP plant einen Europa-Parteitag
Weil das die am wenigsten riskante Strategie ist, macht man das Spiel so lange wie möglich mit. So auch im Bundesrat. Die Exekutive spult im Europadossier tapfer ihre Pflichtübung ab. «Mit Herzblut dabei ist nur noch Viola Amherd», will ein Vertreter der Mitte wissen. Selbst Aussenminister Cassis sei sich der neuen Grosswetterlage in Bundesbern bewusst und schweigt – wohl auch aus verhandlungstaktischen Gründen – die Angelegenheit tot, während Energieminister Albert Rösti (57) mit einzelnen Mitgliedstaaten Gasverträge ausarbeitet, um ein Stromabkommen mit der Gesamt-EU überflüssig zu machen.
Und was planen die Parteien für den Tag X? Die FDP will die Sache basisdemokratisch angehen: «Wir werden nach Vorliegen des Verhandlungsergebnisses einen Parteitag einberufen, an dem jedes Mitglied willkommen ist», sagt Thierry Burkart. Dann soll es von beiden Seiten Plädoyers geben. Die im Anschluss gefällte Entscheidung will Burkart als Präsident «selbstverständlich engagiert vertreten».
Klassische Protagonisten verlieren an Einfluss
Wie auch immer FDP, Mitte und die Linke sich positionieren: Die Gegner stehen bereit – an vorderster Front die Kompass-Truppe. Die SVP mit ihrer viel brisanteren Nachhaltigkeits-Initiative gegen die «Zehn-Millionen-Schweiz» kann sich derzeit zurücklehnen.
Der Zuger Nationalrat und Mitte-Chef Gerhard Pfister bekundet grundsätzlich Sympathie für das Anliegen der Kompass-Initianten. Dass ein Abkommen von dieser Bedeutung vors Volk muss, sei für ihn persönlich ein «no-brainer». Ihn beschäftigt allerdings, dass die klassischen Protagonisten der Politik – Parteien, Verbände, Medien – an Einfluss verlieren und an ihrer Stelle neue, wirkungsmächtige Akteure mit viel Geld die Bühne betreten. Was für die Demokratie grundsätzlich zwar zu begrüssen sei. Als Negativbeispiel nennt er den Tech-Krösus Elon Musk (53), der in den USA Wahlkampf für Trump macht.
Für die Schweizer Unterhändler gilt es jetzt erst einmal, einen Deal nach Hause zu bringen. Dann ist vielleicht auch Handy-Botschafter Mavromichalis wieder ein wenig besser gelaunt.