Vertreter des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse bekamen im Voraus Wind von der Anti-EU-Kampagne von Kompass Europa – einem Vorhaben, das den Interessen des Verbands diametral entgegenläuft. Doch wie darauf reagieren? Am 5. September trat der 75-köpfige Vorstand zusammen, der hundert Wirtschaftsbranchen, zwanzig Handelskammern und ein Dutzend Grossfirmen vertritt.
Ein Vertreter der Textilindustrie stellte einen Antrag: Soll die Kampagne zum Erhalt und zur Weiterentwicklung der bilateralen Verträge mit der EU verstärkt werden? «Rund drei Viertel der Anwesenden stimmten mit Ja», erzählen mehrere mit der Sache vertraute Personen übereinstimmend. Economiesuisse-Präsident Christoph Mäder liess nicht einmal auszählen, so klar war die Mehrheit. Der Vertreter der Medtech-Branche und Ypsomed-Chef Simon Michel freute sich. Endlich ein klares Statement der Wirtschaft.
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Drei Wochen danach, seit Anfang Oktober, beherrschen der Verein Kompass Europa und seine Volksinitiative die Schlagzeilen. Kompass Europa hat 2500 Mitglieder. Initiiert haben ihn die Gründer der Beteiligungsfirma Partners Group. Sie heissen Alfred Gantner, Urs Wietlisbach und Marcel Erni. Jetzt sind 27 Personen im Initiativkomitee, darunter vier Multimilliardäre und drei Multimillionäre.
Sie alle lehnen das Verhandlungspaket des Bundesrates, das die bilateralen Beziehungen zur EU regeln soll, ab. Sie sagen: Die Rechte der Schweiz als souveräner Partner der EU würden ausgehöhlt.
Nicht mehr nur Christoph Blocher und Walter Frey
Keine andere Frage hat für die Wirtschaft so eine grosse Bedeutung wie das Verhältnis der Schweiz zur EU. Die Kernfrage lautet: Wie viel Souveränitätsverlust ist es der Schweiz wert, den privilegierten Marktzugang zum EU-Binnenmarkt zu erhalten und sogar auszubauen? Und ausgerechnet in dieser zentralen Frage zeigt sich die Wirtschaft so gespalten wie nie.
Das, was die Schweiz derzeit erlebt, ist für den Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann «eine politische Neuaufstellung des Wirtschaftssektors». Mit der neuen Opposition gegen weitergehende bilaterale Verträge offenbare sich «eine fundamentale Spaltung der Wirtschaft im EU-Dossier». Man könne sie nicht als Aussenseiter abtun.
So hätten es früher nur einige wenige, vermögende Wirtschaftsführer gewagt, bei Einzelthemen gegen die vorherrschende Wirtschaftsmeinung zu opponieren. «Dazu zählte man Walter Frey, Tito Tettamanti und Christoph Blocher», sagt Straumann. Mit den Partners-Group-Gründern sei jetzt eine einflussreiche Gruppe aufs politische Parkett getreten, die den Gang der Schweizer Wirtschaftspolitik verändern dürfte.
Ein EU-Gegner mit Geld und Einfluss
Denn Kompass Europa ist nicht die einzige Wirtschaftsvereinigung, die in Opposition zur Economiesuisse geht. Auch der Verband Autonomiesuisse stützt die Kompass-Initiative. Der Verein zählt 800 Anhänger und 22 Komiteemitglieder, die zusammen auf mindestens 1,5 Milliarden Franken Vermögen kommen.
Angeführt wird sie von drei Unternehmern: vom Logistiker Hans-Jörg Bertschi und von den Industriellen Giorgio Behr und Hans-Peter Zehnder. Mit von der Partie ist die Vermögensverwalterin Alexandra Janssen, Tochter des Ecofin-Gründers Martin Janssen. Sie alle sind Multimillionäre.
Selbst Gewerbeverbandspräsident Fabio Regazzi, ein bisher erklärter Befürworter weiterführender bilateraler Verträge, äussert sich skeptisch. Er sagt, früher sei die Wirtschaft in EU-Themen ziemlich geeint gewesen. Jetzt spüre er «vermehrt Gegenwind in der EU-Frage».
Mehr zu den Bilateralen
Die Sorge wegen einer künftigen EU-Regulierung mit negativem Einfluss auf die hiesige Wirtschaft sei gross. «Deshalb werden Teile der Wirtschaft gute Gründe finden, um gegen eine Vertragserweiterung zu sein», so Regazzi. Doch er rät zur Zurückhaltung: Noch habe man das endgültige Vertragsergebnis nicht gesehen.
Die «Handelszeitung» hat öffentliche Quellen ausgewertet und zusammengezählt: Die Mitglieder der beiden Komitees Kompass Europa und Autonomiesuisse kommen auf ein Vermögen von mindestens 12,6 Milliarden Franken und verantworten insgesamt 106’000 Angestellte in ihren Unternehmen. Die Kompass-Europa-Gründer schafften es, eine einflussreiche Anhängerschaft zu mobilisieren, die gegen künftige bilaterale Verträge kämpft.
Wer ist «die Wirtschaft»?
Jetzt kämpfen Befürworterinnen und Gegner um die Deutungshoheit. Wer hat mehr Entscheider auf seiner Seite? Alfred Gantner sagte zum Kampagnenstart, dass «acht von zehn Unternehmern», die er kenne, sich gegen das Vertragspaket ausgesprochen hätten.
Der Bilateralen-Befürworter Simon Michel entgegnet in einem Interview vergangenen Sonntag, dass Gantner ein selektives Beziehungsnetz habe. Denn «Economiesuisse, Swissmem, Arbeitgeberverband und der Gewerbeverband» – alle stünden sie «hinter dem bilateralen Weg». Wer hat recht?
Die Handelskammer-Präsidentin der beiden Basel, Elisabeth Schneider-Schneiter sagt, der Auftritt von Kompass Europa zusammen mit Autonomiesuisse stelle «keine Spaltung der Wirtschaft dar». Es sei dies «eine isolierte Gruppe von Wirtschaftsleuten». Sie kenne «kein einziges Handelskammer-Mitglied», das sich gegen die Weiterführung der Bilateralen ausgesprochen habe, wie sie der Vorstand unterstütze.
Gleiches hört man von der Präsidentin der Zürcher Handelskammer, Karin Lenzlinger. Bei der Handelskammer sei es «ein eindeutiger Entscheid» gewesen. «Die Zürcher Handelskammer hat über 1100 Mitglieder. Da sind grosse Firmen dabei, und keine hat sich je negativ gegenüber dem Vorstand geäussert, weil er die Verhandlungen des Bundesrates mit Brüssel eindeutig unterstützt», sagt die langjährige Ex-Chefin eines Familienbetriebs.
Der Verband der Tech-Branchen, Swissmem, widerspricht Gantner ebenfalls. Dass 80 Prozent der Unternehmer sich gegen die Bilateralen III ausgesprochen hätten, stimme für die Tech-Industrie sicher nicht. Der Verband zählt 1400 Mitgliedsfirmen. Die Branche sei klar dafür.
Befürwortern fehlen Leute vom Format Michels
Die Befürworter des bilateralen Wegs mögen zwar mehr Firmen auf ihrer Seite haben. Doch nur einer verkörpert diese Haltung als erfolgreicher Unternehmer vom Schlage Gantners: Ypsomed-Chef Simon Michel. Die Gegner hingegen haben prominente Gesichter als Zugpferde, die öffentlich für ihr Anliegen eintreten.
Gantner, Wietlisbach und Erni sind sich selbst nicht zu schade, für ihre Initiative auf der Gasse Unterschriften zu sammeln. Im Pro-Lager bleiben die Vertreter, ausser Michel, derzeit lieber in Deckung, bis das Verhandlungsergebnis feststeht.
Die «EU – wie weiter?»-Frage spaltet längst nicht nur die Wirtschaft. Wirtschaftshistoriker Straumann beobachtet, dass sich selbst die Gelehrten an den Unis nicht einig seien, ob ein Fortführen der bilateralen Verträge mit einem neuen Abkommen gut wäre.
Denselben Zwist sieht er bei den Parteien. «Um aber EU-freundliche Vorlagen umsetzen zu können, mussten in der Vergangenheit die FDP, die Mitte-Partei und die SP zusammenspannen. Danach sieht es jetzt nicht mehr aus», sagt Straumann.
Als gut informierter Beobachter gilt auch Jean-Daniel Gerber (78), der frühere Staatssekretär des Seco. Seine Aufgabe war es, die bilateralen Verträge von 2004 bis 2011 umzusetzen. Er erinnert sich, dass 1999 alle Parteien, auch die SVP, hinter den Bilateralen I standen. Der Abbau der Handelshemmnisse zum EU-Binnenmarkt sei «ein zentrales Anliegen» gewesen. Opposition habe es nur gelegentlich von «einigen wenigen vermögenden Wirtschaftsführern» gegeben. Das sei jetzt anders. Das Auftauchen von Kompass Europa sei «eine Zäsur im Auftritt der Wirtschaft».