Gehört Genf zur Schweiz? Aber natürlich! Doch gewisse Vorgänge im äussersten Westen des Landes scheinen nicht ganz zum Bild unseres Rechtsstaats zu passen:
Da lässt der Genfer Generalstaatsanwalt Olivier Jornot (53) im Jahr 2019 einen Mitarbeiter der Polizei frühmorgens abholen, fesseln, nackt ausziehen. Der Mann darf ewig nicht mit seinem Anwalt sprechen. Und das alles, obwohl er kein Schwerverbrecher ist. Und: Obwohl sich schon im Verlauf des Einvernahmetags zeigt, dass sich der Mann kaum einer Amtsgeheimnisverletztung schuldig gemacht hat.
In dieser wilden Geschichte, die derzeit in der Romandie Schlagzeilen macht, erscheint der vermeintliche Täter je länger desto mehr als Opfer. Es geht um einen als schüchtern und zurückhaltend geltenden Politiker namens Simon Brandt, der damals beim strategischen Analysedienst der Polizei arbeitet.
Brandt wird vorgeworfen, vertrauliche Dokumente über gigantische Spesenabrechnungen einiger Angestellter der Stadt Genf der Presse gesteckt zu haben. Eine absurde Geschichte! Umso mehr, als Brandt im Dezember 2021 vom Genfer Polizeigericht vom Verdacht der Amtsgeheimnisverletzung freigesprochen wurde.
«Fehler mit drastischen Folgen»
Blick hat versucht, Licht in die Akte «Simon Brandt» zu bringen. Bei seinen Recherchen ist Blick auf bisher unveröffentlichte Dokumente gestossen, die zeigen, dass in der Affäre einiges im Argen liegt. Dies bestätigt auch ein Bericht der Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Genfer Grossen Rats. In diesem am Dienstag veröffentlichten Bericht werden verschiedene Fehler in «der übereilten Anklageerhebung» gegen Brandt festgestellt. Diese Fehler hätten «dramatische Folgen für die politische Karriere und die Gesundheit» Brandts gehabt.
Der Bericht äussert insbesondere scharfe Kritik an der Kriminalpolizei, an Generalstaatsanwalt Jornot und den zuständigen Staatsrat Mauro Poggia (63, MCG). Als Folge der Affäre sollen neu Tonaufnahmen bei Durchsuchungen und Vernehmungen erstellt werden.
Freitag der 13.
Doch von Anfang an: Blenden wir zurück auf Freitag, den 13. Dezember 2019. Zu dieser Zeit kocht gerade die «Affäre Maudet» hoch, die vom Generalstaatsanwalt Jornot energisch untersucht wird. Der Genfer Staatsrat und einstige FDP-Bundesratskandidat Pierre Maudet (45) steht wegen einer Luxusreise nach Abu Dhabi im Jahr 2015 in der Kritik, zu der er sich hatte einladen lassen. Es geht um den Verdacht der Vorteilsnahme im Amt. Die damalige FDP-Schweiz-Präsidentin Petra Gössi (47) hatte Maudet zum Rücktritt aufgefordert. Zehn Monate später wird ihn die Genfer FDP aus der Partei ausschliessen.
In Genf ist längst bekannt, dass Maudet und Jornot eine innige Feindschaft verbindet. An diesem 13. Dezember 2019 wird Simon Brandt, der ein enger Vertrauter Maudets ist, von einem Dutzend Beamten angehalten.
Der damals 35-jährige, schmächtige Grossrat Brandt wird in eine Zelle ohne Tageslicht verfrachtet. Er ist mit Handschellen gefesselt und gründlich durchsucht worden. Offiziell wird ihm vorgeworfen, der Presse gesteckt zu haben, dass Genfer Stadtangestellte es sich auf Spesen haben gut gehen lassen.
Es ging um Maudet
In Wirklichkeit wird Simon Brandt während des Verhörs aber vor allem zu Dingen befragt, die mit Maudet zu tun haben. Eine der ersten Fragen lautet laut Blick-Recherchen, ob er Maudet nach Abu Dhabi begleitet habe.
Diese Angaben und die folgenden Informationen stammen aus einer weiteren Vernehmung, nämlich derjenigen des Polizei-Unteroffiziers C., der Simon Brandt befragt hatte. Die Befragung von C. – deren Protokoll Blick vorliegt – ist am 11. Juni 2021 durchgeführt worden, nachdem der FDP-Politiker Brandt eine Anzeige wegen Amtsmissbrauchs gegen Unteroffizier C. eingereicht hatte.
«Befugt, Gewalt anzuwenden»
Die Befragung von C. durch die Staatsanwaltschaft enthüllt mehrere problematische Elemente. So behauptet der Polizist, er habe widersprüchliche Befehle erhalten, ob er dem Beschuldigten Brandt Handschellen anlegen solle oder nicht. Warum eine vollständige Durchsuchung? Der Unteroffizier beruft sich auf die Hierarchie. Er musste eine Sicherheitsdurchsuchung, aber auch eine Durchsuchung nach Beweisen durchführen. «Gemäss Auftrag, den ich erhalten habe», heisst es in dem Dokument.
Tatsächlich war Generalstaatsanwalt Jornot im Vorführungsbefehl, der am Freitag den 13. zur Festnahme von Brandt führte, nicht zimperlich. Am Ende des Dokuments ist zu lesen, dass die Polizei «ausdrücklich befugt ist, Gewalt anzuwenden». Es wird insbesondere angeordnet, dass «die Person (...) an der Körperoberfläche sowie in Öffnungen und Hohlräumen, die ohne Hilfsmittel untersucht werden können, zu durchsuchen» ist. Und weiter steht da, dass die Anwesenheit eines Anwalts bei der Befragung des Beschuldigten nicht erlaubt ist.
Spuren verwischt
Zurück zur Vernehmung von Polizist C. Laut Protokoll erklärt er, dass für die Durchführung der Operation mit dem Titel «Cumulus» eine Whatsapp-Gruppe eingerichtet worden war – obwohl es Polizeibeamten nach den geltenden Richtlinien verboten ist, Whatsapp für dienstliche Zwecke zu nutzen. Als der ehemalige Erste Staatsanwalt Stéphane Grodecki bei der Einvernahme von Polizist C. fragt, warum keine Spuren dieser Whatsapp-Gruppe auf seinem Telefon zu finden seien, antwortet dieser nur, es sei halt so.
Noch beunruhigender ist, dass Brandts Befragung zu den Lecks, für die er verantwortlich sein soll, laut dem Protokoll des Unteroffiziers C. um 16.40 Uhr beginnt. Um 15.11 Uhr desselben Tages ist eine E-Mail vom Hauptmann, der für die IT-Sicherheit der Polizei zuständig ist, an C. gesandt worden, die Blick vorliegt.
In dieser Mail wird Brandt ausdrücklich davon entlastet, der Urheber der Lecks zu sein. Brandt hatte sich nachweislich nicht in die Software eingeloggt, die die Daten über die Spesen enthielt. Seltsamerweise ist diese wichtige E-Mail nicht in der Akte enthalten, die die Staatsanwaltschaft über Brandt angelegt hat. So wird Brandt an diesem Tag trotzdem befragt.
«Zu spät gesehen»
Dass Brandt dennoch einvernommen und vor allem derart hart angefasst wurde, erstaunt schon. Von der Genfer Justizbehörde nach der Anzeige von Simon Brandt befragt, rechtfertigt sich Unteroffizier C. zum Einvernahmetag wie folgt: Er habe nach den Hausdurchsuchungen am 13. Dezember 2019 erfahren, dass Simon Brandt sich nicht auf in die Software eingeloggt hatte. «Ich habe eine diesbezügliche Mail erhalten.» Doch er habe diese Mail erst nach der Durchsuchung gesehen. Und: «Wir haben die Anweisungen der Staatsanwaltschaft befolgt.»
Der mysteriöseste Punkt der Verhaftung Brandts ist das Schicksal seines Mobiltelefons. Wie in solchen Fällen üblich, wollte die Polizei auf dem Handy nach Beweisen für Lecks zu den Medien und den Austausch mit Pierre Maudet suchen. Normalerweise erfolgt die Beschlagnahmung eines Telefons durch die Polizei im Rahmen eines geregelten Verfahrens. Doch hier gesteht der Unteroffizier, dass er nicht wisse, warum er «das Gerät nicht in den Flugmodus gestellt hat», obwohl die Richtlinie für Beweismittel genau dies verlangt.
Ein grosses Problem: Denn so verschwinden sämtliche Messenger-Chats zwischen Maudet und Brandt auf verschiedenen Plattformen, darunter Signal. Sie wurden am 15. Dezember gelöscht – während das Telefon noch immer bei der Polizei lag. Wurde das Telefon manipuliert, und wenn ja, zu welchem Zweck? Die Blick-Recherchen fördern immer mehr Fragen zutage.
Medien waren informiert
Die Festnahme von Simon Brandt ist an diesem mittlerweile berühmten Freitag, 13. Dezember 2019, gegen 7 Uhr morgens erfolgt. Der Politiker musste aber bis 16.15 Uhr warten, bis er mit seinem Anwalt sprechen konnte. Und erst um 23 Uhr desselben Tages durfte er die Räumlichkeiten der Polizei verlassen. Nach seiner Freilassung musste Simon Brandt feststellen, dass seine Vernehmung die Medienattraktion des Abends war – und dass Elemente dieser Einvernahme der Presse durchgestochen worden waren.
Das hinterliess einen bleibenden Eindruck bei Simon Brandt. Und es hatte für ihn psychische Folgen, wie mehrere ärztliche Atteste belegen – und wie auch der eingangs erwähnte GPK-Bericht festhält. Brandts politische Karriere und auch private Beziehungen erlitten einen schweren Schlag.
In diesem Fall ist alles fragwürdig
Die Klage, die der FDP-Politiker gegen den Unteroffizier eingereicht und dann auf Generalstaatsanwalt Jornot ausgeweitet hatte, wurde von der Staatsanwaltschaft aber zu den Akten gelegt. Von jener Staatsanwaltschaft also, die Olivier Jornot selbst untersteht. Brandt hat dagegen zwei Beschwerden beim Bundesgericht eingereicht, die bis heute hängig sind.
In diesem Fall ist alles fragwürdig: von der ausdrücklichen Ermächtigung zur Gewaltanwendung bis hin zum Verbot, den Anwalt zu rufen – was schwarz auf weiss im Vorführungsbefehl steht, mit dem Jornot Brandt zur Einvernahme bringen liess.
Wie die Beschwerdekammer für Strafsachen im Urteil vom 24. August 2021 festgestellt hat, wurde im Fall Simon Brandt der Grundsatz der Verhältnismässigkeit missachtet – sprich: Die Behörden haben bei ihren Methoden völlig überreagiert. Dafür wurden Brandt rund 1000 Franken Entschädigung zugesprochen.
Brandt hofft auf Gerechtigkeit
Angesichts der Feindschaft zwischen Generalstaatsanwalt Olivier Jornot und dem früheren Staatsrat Pierre Maudet erweckt der Brandt-Fall nach den Blick-Recherchen den Eindruck einer Art Kollateralschaden der «Affäre Maudet».
Konfrontiert mit den Blick-Recherchen lehnten die Staatsanwaltschaft und Generalstaatsanwalt Jornot es ab, Stellung zu nehmen. Sie verwiesen auf die laufenden Verfahren. Simon Brandt, der angibt, von den Ereignissen im Dezember 2019 noch immer betroffen zu sein, hofft, «dass dieses Mal der Gerechtigkeit Genüge getan wird».