Weibliche Wut-Welle rollt
Wieso sind Frauen wütender als Männer?

Eine Studie zeigt: Frauen werden immer wütender. Was sich heute auch am Frauenstreik zeigen wird. Wieso? Und wie unterscheidet sich weibliche Wut von männlicher Wut? Zwei Expertinnen erklären.
Publiziert: 14.06.2024 um 00:39 Uhr
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Wütende Frauen: Demonstrantinnen am Frauenstreik 2023 in Zürich.
Foto: keystone-sda.ch
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Sara BelgeriRedaktorin

«Gerade eben war ich hässig», sagt Lea (24). «Da hat mir einer aus dem Auto nachgerufen.» Sie sitzt auf einem schwarzen Ledersofa im «Streiki», dem feministischen Streikhaus in Zürich. Überall hängen Sticker und Plakate mit feministischen Parolen.

Auf Tischen im Raum liegen T-Shirts, Schlüsselanhänger und Caps. Sie sind violett oder tragen die Aufschrift «Streik». Hier kann man sich für den feministischen Streiktag eindecken.

Weshalb sie wütend sei? Mechthild (60) überlegt kurz. «Weil unbezahlte Care-Arbeit immer noch eher von Frauen geleistet wird, weil immer noch nicht überall gleicher Lohn für gleiche Arbeit gilt und weil so viele Frauen sexualisierte Gewalt erfahren.»

Frauen werden wütender

In den letzten zehn Jahren sind Frauen immer wütender geworden. Das zeigt eine länderübergreifende Datenauswertung der BBC. Auch Schweizer Daten wurden untersucht. Währendem 2012 noch jede fünfte Frau angab, am Vortag Wut verspürt zu haben, war es zehn Jahre später jede vierte.

Eine, die sich mit Wut gut auskennt, ist Petra Sewing-Mestre (61). Sie leitet die Frauenakademie Luzern, wo sie Frauen und Mädchen in herausfordernden Lebenssituationen coacht. «Mindestens 80 Prozent meiner Klientinnen haben Probleme mit Wut», sagt Sewing-Mestre. Nur: Viele würden nicht erkennen, dass sie wütend seien oder ihre Wut unterdrücken.

Einer der Hauptgründe: Wut wird bei Frauen nicht gerne gesehen. Zu diesem Schluss kommt auch eine Studie der Psychologieprofessorin und Emotionsforscherin Ursula Hess der Humboldt-Universität in Berlin. Sie hat unter anderem herausgefunden, dass wütende Frauen als viel weniger sympathisch wahrgenommen werden. Und: Wut werde vor allem dominant aussehenden Personen zugestanden. 

«Wütende Frauen gelten als unbeherrscht, hysterisch und ganz schnell auch als unsachlich und inkompetent», sagt auch Sewing-Mestre. Ausserdem hätten viele Frauen schon in der Kindheit gelernt, dass sich Wut für ein Mädchen nicht gehöre und dass es nicht laut sein dürfe. Bei Männern würde Wut hingegen anders gewertet: «Wütende und sogar aggressiv auftretende Männer gelten als männlich, kraftvoll und durchsetzungsstark.» Dieses Verhalten werde gesellschaftlich anerkannt.

Wut als Antrieb

Frauen tendieren dazu, ihre Wut weniger zu zeigen als Männer. Dabei wäre es laut Sewing-Mestre wichtig, dass Frauen ihre Wut nicht ignorieren. «Ich halte Wut für eine unglaubliche Kraftressource.» Auch Fabienne Amlinger (48), Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bern, sieht Wut als eine «Kraft, die etwas Konstruktives auslösen kann.»

So hat es laut Amlinger in der Vergangenheit immer wieder Beispiele dafür gegeben, wie Wut in der Geschichte der feministischen Bewegung Veränderung bewirkt hat. Da gebe es
etwa die These, dass der militantere Auftritt der Neuen Frauenbewegung der späten 60er- und 70er-Jahre zur Einführung des Frauenstimmrechts beigetragen habe. «Sie haben ihre Parolen auf die Strasse getragen. Ihre Wut erschien den etablierten politischen Kräften als Gefahr», so Amlinger.

Die Geschlechterforscherin nennt auch das Beispiel der Nichtwahl von Christiane Brunner. Die Sozialdemokratin hätte 1993 Bundesrätin werden sollen – die bürgerliche Parlamentsmehrheit wählte sie jedoch nicht. In der ganzen Schweiz kam es daraufhin zu Protesten. «Vor allem Frauen machten ihrer Wut Luft», so Amlinger. Dies habe unter anderem dazu geführt, dass schliesslich Ruth Dreifuss gewählt wurde. Während der Wahl protestierten mehrere Tausend Menschen auf dem Bundesplatz. «An diesem Beispiel sieht man die produktive Kraft der Wut», so Amlinger.

Wütende Frauen verweisen auf wichtige Fragen

Wut diene auch dazu, dass Frauen sich in Gruppen oder Kollektiven organisieren würden. Und wütende Frauen, so die Geschlechterforscherin, würden auf wichtige Fragen verweisen – zu Macht oder Gerechtigkeit etwa. «Wer versucht, ihnen diese Wut abzusprechen oder zu sanktionieren, versucht von den Gründen für die Wut abzulenken.»

Im Streikhaus hat Mechthild sich für ein violettes T-Shirt entschieden. Auf der Brust prangt eine geballte Faust. «Ich gehe seit mehr als der Hälfte meines Lebens für dieselben Dinge auf die Strasse», sagt sie. «Ich hoffe, wir werden irgendwann laut genug sein, sodass sich etwas ändern wird.»

In Zürich wird die Demonstration mit einem Schrei gegen Femizide beginnen.


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