Die sogenannt fünfte Schweiz wächst stetig an: Über 800'000 Auslandschweizerinnen und -schweizer gibt es. 11 von 100 Menschen mit Schweizer Pass leben aktuell nicht in der Schweiz. Welches Glück suchen sie im Ausland? Was sind die Beweggründe, die sichere Heimat zu verlassen? Sieben verschiedene Auswanderer-Typen geben Auskunft.
Die neu Angekommene
Noch kein Jahr ist es her, dass Myria Poffet (41) mit ihrem Mann Romain (41) und ihrer Tochter Jeanne (4) die Juli-Hitze Berns hinter sich liess und im winterlichen Pretoria in Südafrika ankam. Während Romain für seinen Schweizer Arbeitgeber im Einsatz ist, will Sängerin und Pianistin Myria Poffet in die lebendige lokale Jazz-Szene eintauchen.
Zuerst aber galt es, einen Alltag im neuen Land aufzubauen – eine andere Herausforderung als bei früheren Auslandaufenthalten jeweils allein oder als Paar. «Am Anfang war es schwierig. Romain war beschäftigt mit seinem Job; ich musste mich um viel Administratives kümmern und hatte niemanden, der mir Jeanne abnehmen konnte», sagt Myria Poffet. Es habe mehr Zeit gebraucht als erwartet, bis sie wieder üben, komponieren und Konzerte besuchen konnte. Inzwischen lernt Jeanne Englisch und ist zeitweise durch eine Nanny betreut.
Gewöhnungsbedürftig für die Schweizer Familie ist, dass das Leben mit Kind vor allem drinnen, in eingezäunten Gärten oder auf bewachten öffentlichen Spielplätzen stattfindet. «In der Schweiz gibt es kaum Orte, wo man wegen Kriminalität oder gefährlichen Tieren nicht hin soll. Das ist hier anders. Die gastfreundlichen Menschen und grandiosen Landschaften machen es aber wieder wett.»
In die schöne, sichere, saubere Schweiz kehren sie immer sehr gern zurück, sagt Myria Poffet. «Aber die Welt ist gross. Wir sind neugierig auf andere Orte und neue Menschen. Wir haben Lust auf Abenteuer – mit der nötigen Vorsicht und Vorbereitung natürlich.»
Der Ausdauernde
Als «absolut planlose Aktion» beschreibt Mathias Künzli (47) seinen Abflug in die USA im Alter von 19 Jahren. Mit zwei Stipendien in der Tasche wollte er für ein oder zwei Semester am Berklee College of Music in Boston Schlagzeug und Perkussion studieren.
Heute, 28 Jahre später, lebt der Aargauer immer noch in den USA. «Das hat weniger mit dem Land zu tun als damit, dass ich hier meine prägendsten beruflichen Jahre erlebt habe», sagt Mathias Künzli. Die Bewegung, das Tempo, die Internationalität – all das faszinierte ihn. Der Gedanke, sein über die Jahre gewachsenes Netzwerk in der Musikszene zurückzulassen, war stets beängstigender, als einfach dort zu bleiben.
Von Anfang an hat er seinen Lebensunterhalt als selbständiger Musiker verdient. Als er mit dem Studienabschluss und 3400 Dollar in der Tasche von Boston nach New York City umzog, gelang es ihm, sich einen Platz in der dortigen Musikszene zu erobern. Seither trommelt er auf der ganzen Welt.
Seit ein paar Jahren lebt er mit seiner Frau, die aus Israel in die USA ausgewandert ist, in Los Angeles. «Ich fühle mich in den USA wohl genug, aber ich bin deswegen kein Amerikaner geworden.» Viel wichtiger ist für ihn die Erfahrung, als Ausländer zu leben. «Das hat mich zu einem offenen, toleranten Menschen gemacht. Ich habe keine Angst vor anderen, egal wie fremd sie mir erscheinen», sagt Mathias Künzli. «Dafür bin ich dankbar.»
Die Jungen
Die Geschwister Ada (11) und Ruben (13) haben nur wenige Erinnerungen an ihren Alltag in Basel. Seit acht Jahren leben sie mit ihrem grossen Bruder und ihren Eltern in Cambridge, nördlich von London. «In der ersten Zeit hier schauten wir häufig ‹Peppa Pig›, um die Sprache zu lernen», erinnert sich Ada. Das mit dem Englischen klappte problemlos, noch schneller aber knüpften sie erste Freundschaften in der neuen Heimat. «Wann immer möglich, habe ich Fussball gespielt. So habe ich in der Schule James kennengelernt, mit dem ich noch heute befreundet bin. Er war von Anfang an sehr nett zu mir», sagt Ruben.
Als Ausländer sind sie nichts Besonderes in der Universitätsstadt. An ihren Schulen habe es viele Kinder aus verschiedenen Kulturen und Ländern, erzählen sie. Ob etwas typisch Schweizerisch an ihnen ist, vermögen Ruben und Ada nicht zu sagen.
Mehrmals pro Jahr kehren sie mit ihrer Familie in die Schweiz zurück, und dann freuen sie sich nicht nur auf die Grosseltern, Verwandte, Freundinnen und Freunde, sondern auch auf Rivella, Cervelat, Schokolade und Paprika-Chips.
Ada und Ruben können sich beide vorstellen, als Erwachsene selbst in ein anderes Land zu ziehen. Vorerst aber möchten sie in der neuen Heimat bleiben. «Wir haben hier so viele gute Beziehungen geknüpft, ich fände es nicht völlig easy, jetzt wegzugehen», sagt Ruben. Und Ada fügt an: «Trotzdem wäre es cool, wieder mal in der Schweiz zu leben.»
Die Mitreisende
Für die berufliche Karriere ihres Mannes gab Helen Freiermuth (65) einen vorgezeichneten Weg in die Politik auf. «Das war das Einzige, was ich vermisst habe, als wir 1995 auswanderten», sagt sie.
Fünf Jahre Shanghai (China) waren abgemacht, doch dabei blieb es nicht. Ihr Mann, Firmenleiter in einem deutschen Konzern, liess sich in die USA versetzen, später nach Kanada und erneut nach China. An den ersten beiden Auslandstationen waren die beiden Töchter des Paars aus dem Zürcher Unterland dabei. Später gingen sie ihre eigenen Wege. Seit ihr Mann vor zehn Jahren pensioniert wurde, lebt Helen Freiermuth mit ihm in Çeşme in der Nähe von Izmir (Türkei) an der Ägäis.
Als mitausreisende Ehefrau übernahm sie an jedem neuen Ort die administrativen Aufgaben, knüpfte Kontakte, lernte Chinesisch, lernte Türkisch, betätigte sich karitativ. «Ich war immer schon aktiv. Das hat sich im Ausland sicher noch verstärkt – anders geht man unter», sagt Helen Freiermuth. Sie fand auch einen Weg zurück in die Politik: Helen Freiermuth ist Delegierte für die Türkei im Auslandschweizerrat und präsidiert die FDP International.
«Wenn man sich in anderen Kulturen bewegt, verändert sich der Blick auf das eigene Land», sagt sie. «Man hat das Gefühl, die Menschen in der Schweiz sind sich gar nicht bewusst, wie gut es ihnen geht.» Helen Freiermuth erfüllt es mit Glück, sich in neuen Situationen zurechtzufinden, neue Erfahrungen zu machen. In Çeşme ist das Paar Teil der lokalen Gesellschaft geworden – und empfängt Bekannte aus nah und fern. «Jetzt reisen wir nicht mehr in die Welt, die Leute kommen zu uns.»
Der Späte
Ein Segeltörn in Thailand, zu dem ihn Kollegen überredet hatten, öffnete Franz Juchli (75) aus Buchs ZH die Augen. «Drei Wochen ohne Handy, Fax, Mail – ich erkannte, dass es Schöneres gibt im Leben, als nur zu arbeiten.» Er, der immer «volle Pulle» gearbeitet hatte und es mit seinem Spenglerei-Malerei-Geschäft zu Vermögen gebracht hatte, warf seinen Lebensplan über den Haufen. Statt bis 70 weiterzuarbeiten, verkaufte er von einem Monat auf den anderen sein Geschäft, sein Haus, seine Autos und seine Harley-Davidson und wanderte aus.
Leicht fiel ihm der Abschied aus der Schweiz vor acht Jahren auch, weil er sich als Eidgenosse, wie er sich selbst bezeichnet, stetig unwohler fühlte im eigenen Land. Er wollte sich nicht mehr ärgern über die Ausländerpolitik oder über die Polizeikontrollen, in die er mit dem Auto immer wieder geriet. Juchli spricht von einem Polizeistaat.
Niedergelassen hat er sich in Pattaya an der östlichen Golfküste Thailands. Hier war er während der Pandemie froh um sein Haus mit Pool und Umschwung, war ständig am Renovieren und Reparieren. Doch nach seiner Genesung von einem Hirnschlag 2021 entschied er sich, das Haus zu verkaufen. «Das Leben kann schnell vorbei sein. Ich will es nur noch geniessen», sagt er.
Seither lebt Franz Juchli in einer bewachten Wohnanlage, wo er verschiedene Schweizer als Nachbarn hat. Er geniesst den Ruhestand als Single ohne Existenzängste, trifft sich mit Schweizer Kollegen zum Kaffee, zum Nachtessen oder zum Billardspielen. «Ich habe in Thailand ein freieres, entspannteres Leben gefunden», sagt er.
Die Weiterwanderer
Für ihre Verhältnisse sind Andrea (46) und Rolf (52) Bertschi nun schon lange am selben Ort: 2018 zogen sie mit ihren zwei kleinen Kindern in das Schlosshotel Château de Montcaud in der Provence und führen es seither gemeinsam. Zuvor wechselten sie in rascherem Takt ihre Wahlheimaten.
«Die Hotellerie hat mir ermöglicht, verdienend andere Länder zu sehen», sagt Rolf Bertschi aus Suhr AG, der seit 20 Jahren im Ausland arbeitet und schon immer reisen wollte.
Andrea Bertschi aus Basel wanderte mit 31 aus. «Ich suchte den Nervenkitzel und sah es als persönliche Herausforderung, mein geordnetes Leben hinter mir zu lassen und mich allein durchzuschlagen», sagt die Psychologin.
Während der Zeit, als sie in der thailändischen Hauptstadt Bangkok Englisch unterrichtete, wurden die beiden ein Paar. Gemeinsam ging es für jeweils ein paar Jahre nach Hongkong, Südchina, Dubai – und dann nach Frankreich. «Manche denken vor dem Auswandern, jeder Tag werde ein Abenteuer», sagt Rolf Bertschi. Doch egal wo, schnell stellt sich jeweils ein Alltag ein. Seit ihre Kinder eingeschult sind, sind die Kontakte zur lokalen Bevölkerung selbstverständlich geworden. «Aber besonders nahe kommen wir den Menschen hier nicht. Man bleibt immer fremd», sagt der Hotelier.
Mit Kindern kommt nicht mehr jede Destination als Wohnort infrage, auch wegen der Schulbildung. Eine Option steht immer offen: «Als Schweizer im Ausland haben wir den Luxus zu wissen, dass unser Heimatland und unsere Familien uns auffangen, wenn wir zurückkehren», sagt Andrea Bertschi.
Der Schweiz-Repräsentant
Seinen Namen müsse sich in Venezuela niemand merken, er sei einfach «el embajador», der Botschafter, sagt Jürg Sprecher (47). Seit September 2020 lebt der Diplomat mit seinem Partner in Caracas, einer der gefährlichsten Hauptstädte der Welt. Ein Hauptfokus der Schweizer Diplomatie liegt in Venezuela auf der Begleitung der humanitären Hilfe. Jürg Sprecher vertritt die Schweiz zudem in weiteren umliegenden Staaten und Karibik-Inseln.
Erstmals in seiner diplomatischen Karriere besetzt der Appenzeller einen Botschafterposten, und anders als in anderen Positionen im diplomatischen Dienst im Ausland gibt es für ihn keine Anonymität mehr. Tauchte er als Diplomat in Tel Aviv oder Madrid am Wochenende als Privatperson ins Grossstadtleben ein, verschwinde er als Mensch nun sozusagen hinter der Funktion. «Bildhaft gesprochen sind wir die, die immer mit dem Schweizer Fähnlein unterwegs sind», sagt Jürg Sprecher.
Als Repräsentant der offiziellen Schweiz kann er sich also kaum assimilieren im krisengeschüttelten Venezuela. Die berufliche Aufgabe bringt zudem einen regelrechten Spagat mit sich: Einerseits soll er in die Kultur eintauchen, andererseits aber keine Wurzeln schlagen, weil spätestens alle vier Jahre die Posten neu besetzt werden.
Jürg Sprecher schätzt, als Generalist arbeiten zu können, ständig Neues zu lernen und Menschen zusammenzubringen. Dass er seine Tätigkeit immer wieder im Ausland ausübt, komme zu diesem vielfältigen Beruf einfach noch dazu. Er sagt: «Es ist eine ehrenvolle und beglückende Aufgabe, die Schweiz im Ausland zu vertreten.»