Wenn Heidi Brenner (68) lacht, legt sie die Hand vor den Mund, ihre Nägel leuchten rot. Sie trägt eine blau gesprenkelte Brille, die sie als «mutig» bezeichnet, einen Ring mit weissem Stein und ein Bracelet mit verschieden geformten, hellen Steinen, darin eingesetzt ihren Namen: Heidi. «Ich wusste, ich werde eine Frau wie aus dem Bilderbuch: eine ältere Dame, die viel Wert legt auf ihr Äusseres.»
Ganz anders als vorher, als sie als Mann lebte, der zwar immer sauber war, aber kaum das Attribut besonders gepflegt verdient hätte. Heidis Freundinnen und Freunde aus der linken, alternativen Ecke nehmen ihr Erscheinungsbild mit Staunen zur Kenntnis.
Mut zum Kleid
Heidi Brenner sagt, sie habe ihren Stil noch nicht gefunden, und ihre Garderobe ist noch klein. Mal trägt sie bunte Pluderhosen und helle Seidenbluse, mal ein gestreiftes, langes Sommerkleid, bei dem ein paar Brusthaare hervorblitzen. Sie mag Jupes, leuchtende Farben. «Es braucht Mut, Kleider zu tragen. Ich mache es nicht zum Auffallen. Ich freue mich einfach darüber, dass ich mich endlich schön machen kann.»
Heidi Brenner ist eine von ganz wenigen Personen in der Schweiz, die sich mit über 60 dazu entscheiden, ihre Transidentität zu leben. Das gängige Bild von trans Personen ist von jungen Generationen geprägt. Heidi Brenner gibt nun älteren trans Menschen in der Schweiz ein Gesicht. Dabei ist für sie selbst noch alles ganz frisch.
Im Februar 2023 kommt dieser Abend, wo die Puzzleteile sich ineinanderfügen. Als einmalige Sache ist es geplant, ein Spaghetti-Essen in kleiner Runde in den eigenen vier Wänden in der Genossenschaftssiedlung am Rand der Stadt Zürich; hier würde die Gastgeberin, die seit 68 Jahren als Mann lebt, das erste Mal weiblich frisiert, geschminkt und in Jupe auftreten. Das erste Mal überhaupt Frauenkleider tragen. Hier würde Heidi erscheinen.
Nicht zurück zum Leben als Mann
Sechs Monate später sitzt Heidi Brenner in der Zürcher Altstadt vor dem «Kweer» und erinnert sich an das Hochgefühl, das sie an jenem Abend fühlte. Sie nimmt einen Schluck von ihrem eisgekühlten Kaffee und sagt: «Plötzlich war alles klar: Es gibt kein Zurück.»
Zurück zum Leben als Mann, dem gelernten Elektroplaner, der jahrzehntelang mit sich gehadert hatte, sich mit Sarkasmus und Ironie schützte, sich in der Pfadi unwohl, im Militär wie in der Hölle gefühlt hatte. Der gerne fordernde Jobs mit Verantwortung ausübte, sich aber fehl am Platz gefühlt hatte in den männerdominierten Führungskreisen, in denen er sich mit der Erwachsenenmatura im Sack als Werbe- und Redaktionsleiter bewegte.
Trans Menschen haben eine andere Geschlechtsidentität als das amtliche Geschlecht bei Geburt. Vor einem Coming-out oder einer Transition leben sie gezwungenermassen in einer anderen Geschlechterrolle.
Die Transition ist eine persönliche Angelegenheit und bezeichnet den Weg vom bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zum passenden Geschlecht. Dies kann, muss aber nicht, soziale, administrative, rechtliche oder medizinische Elemente beinhalten.
Weitere Informationen: Transgender Network Switzerland, www.tgns.ch
Trans Menschen haben eine andere Geschlechtsidentität als das amtliche Geschlecht bei Geburt. Vor einem Coming-out oder einer Transition leben sie gezwungenermassen in einer anderen Geschlechterrolle.
Die Transition ist eine persönliche Angelegenheit und bezeichnet den Weg vom bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zum passenden Geschlecht. Dies kann, muss aber nicht, soziale, administrative, rechtliche oder medizinische Elemente beinhalten.
Weitere Informationen: Transgender Network Switzerland, www.tgns.ch
Ihren Männerkörper empfand Heidi immer wieder als fremd, sie malträtierte ihn, gab ihm wenig Sorge. Sie lebte eine stereotyp männliche Rolle, wollte anderen etwas beweisen, nahm zehnmal teil am «Frauenfelder», dem «König der Waffenläufe». Neunmal schaffte sie es nach zurückgelegter Marathondistanz über die Ziellinie, nur 300 Meter vom Elternhaus entfernt.
Als Sohn eines Metzgers mit drei älteren Geschwistern in Frauenfeld TG «hart, aber herzlich» erzogen, als Kind immer wieder mit komplizierten Brüchen im Spital und ständig krank. «Ich suchte die Liebe der Mutter», sagt Heidi Brenner heute darüber. Im Geschäftshaushalt war immer viel los, die Mutter im familieneigenen Betrieb eingespannt. War das Kind krank, blieb die Mutter an seiner Seite.
In der männlichen Rolle bekam sie zwei Kinder, war ein engagierter Elternteil, auch nach der Scheidung vor gut 20 Jahren. Depressionen, ein früher Hirnschlag, ein Burn-out führten zu einer unsteten beruflichen Laufbahn und schliesslich zur IV-Rente.
Heidi ist gekommen, um zu bleiben
Nein, ein Zurück kam nach jenem Abend im Februar nicht infrage. Heidi sollte bleiben, sie wollte nach vorne blicken. Auf dem Zivilstandsamt beschied man ihr, eine Personenstandsänderung könne sofort gemacht werden, dazu brauche es einzig den Pass.
Seit dem 1. Januar 2022 ist es in der Schweiz möglich, den Geschlechtseintrag im Personenregister ändern zu lassen, indem man erklärt, dass der bisherige Eintrag nicht mit der Geschlechtsidentität übereinstimmt. Anders als zuvor braucht es keine medizinischen Nachweise oder schriftlichen Gesuche mehr.
Die Gesetzesänderung führte 2022 zu einem statistischen Ausschlag nach oben. Statt der gut 200 amtlich erfassten Geschlechtsänderungen wie in den Vorjahren waren es 2022 sechsmal mehr, 1171.
Heidi Brenner existiert seit dem 16. Februar 2023 offiziell. «Ich wusste schon als Kind, dass ich ein Mädchen sein möchte», sagt sie. Ihren Wunsch sprach sie über die Jahre vereinzelt und im Vertrauen aus; seit gut 15 Jahren macht sie eine Psychoanalyse bei einer auf das Thema spezialisierten Fachperson. Und dachte sich doch immer wieder: «Ich kann diesen Weg nicht gehen. Ich doch nicht.»
Schwieriger für ältere trans Menschen
Die gesellschaftlichen Zwänge, in denen Heidi Brenner aufgewachsen ist, wirken bis heute. Dass sie eine trans Frau ist, an diesen Gedanken musste sich Heidi Brenner gewöhnen. Denn in ihren Ohren klang der Begriff erst mal abwertend. Amtlich gilt sie als Frau. Und doch: «Ich werde nie eine ‹richtige› Frau sein. Das bin ich mir sehr bewusst», sagt sie.
Im Jahr 2022 stammten 53 Prozent aller Anträge für eine Geschlechtsänderung von Menschen unter 25. Älteren trans Menschen fällt der Schritt schwerer. Von den 1171 Geschlechtsänderungen wurden nur 40 von Personen im Alter von 60 und mehr registriert.
Heidi gäbe es heute noch nicht, hätte sie sich im vergangenen Jahr nicht frei gemacht für Neues. Und wäre nicht Linda (22) in ihr Leben getreten, die hier nur mit Vorname auftreten will. Heidi Brenner bezeichnet Linda als ihren Zauberlehrling.
Coming-out auf der Bühne
In ihrem Leben als Mann war Heidi Brenner sozial engagiert und jahrelang ehrenamtlich im Flüchtlingsbereich tätig. Diese Aufgaben legte sie ab und entdeckte kurz danach, etwa vor einem Jahr, einen Aufruf vom Zürcher Theater Neumarkt, in dem ältere Laien gesucht wurden für ein Stück mit dem Titel «All the Sex I've Ever Had». Sie bewarb sich.
In der international zusammengesetzten, diversen Truppe fühlte sie sich aufgenommen. Akzeptiert als die Person, die sie ist. Ende Jahr, auf der Bühne, mit Bart, Jeans und losem Hemd, sprach sie die Worte: «Jetzt bin ich Heidi. Eine Frau, die Frauen liebt.» Das Coming-out.
Im Publikum sass Linda, eingeschrieben im Studiengang Trends & Identity an der Zürcher Hochschule der Künste. Linda hatte sich schon früher mit trans Identitäten im Alter beschäftigt. Schnell entstand die Idee eines gemeinsamen Projekts für die Bachelorarbeit: «The Real Heidi». Als einmalige Performance war die Verwandlung in Heidi im vergangenen Februar gedacht.
«Die Geister, die ich rief, werd ich nun nicht los», zitiert Heidi Brenner beim Eiskaffee Goethes «Zauberlehrling». Heidi war gekommen, um zu bleiben.
Beim Gang aufs Amt, nur neun Tage nach dem Spaghetti-Essen in ihrer Wohnung, war neben einer langjährigen Freundin auch Linda dabei. «Heidi wirkt seither innerlich ruhig und harmonisch, und sie ist viel fröhlicher», sagt Linda.
Per Brief informierte Heidi Brenner ihre Angehörigen, Freundinnen und Freunde, ihre Nachbarschaft: «Ich bin ab sofort Heidi, und das ist bestens so :-)», lautete die Überzeile des Zweiseiters, in dem sie sich erklärte. Sie schrieb: «Der Entscheid, dass ich meinen Namen und mein Geschlecht meinen tiefsten Gefühlen angleiche, ist mir – jetzt endlich – sehr leichtgefallen.» Sie bat um Unterstützung, um Mut und Offenheit.
Manche haben den Kontakt abgebrochen
Ob sie diese erhalten hat? «Ich bin nicht verurteilt worden», sagt Heidi Brenner. Doch: «Ich hätte nie gedacht, dass ich so viele Leute verliere.» Manche melden sich nicht mehr bei ihr, andere wollen sie weiterhin mit dem alten Namen ansprechen, was Heidi nicht akzeptiert. Gefreut hat sie kürzlich die Bemerkung einer Nachbarin, sie wirke immer weiblicher. Wie ihr die einzelnen Familienmitglieder begegnen, darüber will sie öffentlich nicht sprechen.
Vollkommen akzeptiert fühlt sich Heidi Brenner in der queeren Community. In ihrer trans Gruppe habe sie viel gelernt über Toleranz anderen gegenüber. «Ich setze mich mit eigenen Vorurteilen auseinander», sagt die bald 69-Jährige offen. «Früher kannte ich nur die fünf Prozent aus der queeren Community, die auffällig unterwegs sind. Ich habe gegafft.»
Heute bewegt sie sich ganz selbstverständlich in diesen Kreisen, nimmt auch an Pride-Kundgebungen teil. Das erste Mal, in Zürich, fühlte sie sich getragen, gestärkt. Kürzlich hingegen nach der Pride in St. Gallen bekam sie zu spüren, wie verletzend sich Queerfeindlichkeit anfühlt.
Mit ihren über 1,80 Metern Körpergrösse gehört wohl auch Heidi Brenner zu jenen fünf Prozent in der queeren Community, die sie als auffällig und sichtbar bezeichnen. Zwar sagt sie leicht ironisch bedauernd: «Die häufig von älteren Frauen empfundene Unsichtbarkeit ist mir nicht vergönnt.»
Heidi will andere ermutigen
Doch gleichzeitig geht sie entschlossen, wenn auch angespannt als Aktivistin an die Öffentlichkeit. Sie selbst hatte keine Vorbilder; vielleicht wird sie nun selbst zu einem. Im Beschrieb zu Lindas Bachelorarbeit heisst es: «Ältere trans Personen erfahren aufgrund ihrer Geschlechtsidentität und ihres Alters bis heute eine Mehrfachdiskriminierung in unserer Gesellschaft.»
Die Bachelorarbeit «The Real Heidi» von Linda (22) an der Zürcher Hochschule der Künste macht trans Identitäten im Alter zum Thema. Ein Element der Arbeit ist ein künstlerisches, poetisches Video mit Heidi Brenner: www.therealheidi.ch
Heidi Brenner gibt auf Instagram Einblick in ihren Alltag: @therealheidi.ch
Die Bachelorarbeit «The Real Heidi» von Linda (22) an der Zürcher Hochschule der Künste macht trans Identitäten im Alter zum Thema. Ein Element der Arbeit ist ein künstlerisches, poetisches Video mit Heidi Brenner: www.therealheidi.ch
Heidi Brenner gibt auf Instagram Einblick in ihren Alltag: @therealheidi.ch
Mit ihren Auftritten möchte Heidi Brenner älteren Menschen, die gleich fühlen wie sie, Mut machen, aber auch jüngere Menschen darin bestärken, ihre innersten Gefühle wahrzunehmen. Bei ihr selbst brauchte es Jahrzehnte, bis sie sich dies zugestand. Sie sagt: «Für mich ist es das Wichtigste, endlich zu mir zu stehen.»
Ihre persönliche Transition ist nicht abgeschlossen. Das Medizinische geht ihr zu langsam vorwärts. Erst seit kurzem nimmt sie Hormone – und wartet kribblig auf Termine, an denen die verschiedenen Behandlungen von Dermatologie über Chirurgie bis Logopädie diskutiert und geplant werden. «Ich wünsche mir einen weiblichen Körper. Ich habe so lange gewartet, jetzt möchte ich Vollgas geben», sagt sie.
Die Transition fordert ihr viel ab. Sie sei im Alltag nahezu komplett davon absorbiert, Heidi zu sein. «Die Transition ist sehr einschneidend. Und das ist gut so», sagt sie. Sie staunt darüber, wie stark Heidi ist. Überhaupt: An Heidi hat sie Freude. «Ich bin positiv überrascht, wenn ich sehe, wie Heidi wird: offen und leicht schräg.»
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