Urteil des höchsten Gerichts stösst auf Kritik
Julian P. muss entweder Frau oder Mann sein

Das Bundesgericht hat entschieden: Hierzulande ist und bleibt es unmöglich, weder als weiblich noch männlich registriert zu sein. Jetzt könnte die Geschlechtsordnung in der Schweiz zum Fall für den Europäischen Gerichtshof werden.
Publiziert: 08.06.2023 um 17:45 Uhr
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Aktualisiert: 09.06.2023 um 07:57 Uhr
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Der Entscheid fiel einstimmig. Das Bundesgericht lässt die Streichung des Geschlechtseintrags für eine im Ausland lebende Schweizer Person nicht zu.
Foto: Keystone
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Lea HartmannRedaktorin Politik

Mann oder Frau. Etwas anderes gibts nicht. Das Bundesgericht hat am Donnerstag ein mit Spannung erwartetes Urteil gefällt. Einstimmig haben die fünf Richterinnen und Richter festgehalten, dass es in der Schweiz rechtlich nicht möglich ist, offiziell kein Geschlecht zu haben.

Für Alecs Recher (47) ist der Beschluss eine grosse Enttäuschung. Der Gründer des Transgender Networks Switzerland setzt sich für die Interessen nichtbinärer Menschen ein – von Personen also, die sich weder als Mann noch als Frau identifizieren. Ein Teil dieser Menschen ist ohne eindeutige Geschlechtsmerkmale geboren worden.

In Deutschland weder Frau noch Mann

So auch die Person, die wir hier Julian P.* (34) nennen. P. ist im Aargau geboren – offiziell als Mädchen. Inzwischen lebt P. in Berlin und hat dort den weiblichen zu einem männlichen Vornamen ändern lassen. Zudem liess P., was in Deutschland schon länger möglich ist, die Geschlechtsangabe aus dem offiziellen Register streichen.

In Deutschland ist P. also weder Frau noch Mann. Doch was gilt in der Schweiz? Damit hat sich nun das Bundesgericht beschäftigt, nachdem das Justizdepartement Beschwerde gegen einen Entscheid des Aargauer Obergerichts eingereicht hatte.

Aus Sicht des Bundesgerichts würde man an der Gewaltenteilung ritzen, wenn man Julian P. erlaubt, auch in der Schweiz offiziell kein Geschlecht zu haben.

«Ich bin traurig, nicht nur für mich selbst»

«Ich bin traurig, nicht nur für mich selbst, sondern auch für alle, die aufgrund eigener Betroffenheit ebenso einen positiven Bescheid erhofft haben», meint P. zum Entscheid.

P.s Anwalt Stephan Bernard sagt, es sei irritierend, dass die Schweiz beispielsweise ausländische Trusts anerkenne, die im Schweizer Recht ebenfalls nicht vorgesehen sind, sich aber weigere, dasselbe bei einem deutschen Registereintrag zu tun. Er kritisiert ausserdem, dass sich das Bundesgericht auf Gesetze und Berichte stützt, die es zum Zeitpunkt der Beschwerde noch gar nicht gab.

Gericht fordert Bund zum Handeln auf

Bernard erwägt ernsthaft, den Fall an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterzuziehen. Bundesrichter Felix Schöbi (65) machte in der Verhandlung klar, dass die Chancen gut stehen, dass die Schweiz dort zurückgepfiffen wird. Auch deshalb könnten sich die Behörden in Bern nun – trotz des Siegs vor Gericht – nicht zurücklehnen. Die heutige Rechtslage sei «alles andere als befriedigend».

Das sieht auch Alecs Recher so. Er schätzt, dass etwa zwei Prozent der Schweizer Bevölkerung nonbinär sind. «In absoluten Zahlen sind das mehr, als in der Landwirtschaft tätig sind», sagt Recher. Für diese Menschen müsse man Lösungen finden.

Parlament wurde bereits aktiv

Genau damit hat die Rechtskommission des Nationalrats den Bundesrat jüngst beauftragt. Sie bedaure den Entscheid des Bundesgerichts sehr, sagt deren Mitglied Sibel Arslan (42), Nationalrätin der Grünen. «Jetzt liegt der Ball bei uns im Parlament.» FDP-Nationalrätin Christa Markwalder (47) pflichtet ihr bei, dass es rechtliche Anpassungen brauche. «Anpassungen, die den Betroffenen helfen, aber niemandem wehtun.»

* Name geändert

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