Die Geschlechterdebatte
Vincenzo will keine Frau mehr sein

Vincenzo (18) mochte lange Kunstnägel und bauchfreie Tops. Und wehrte sich als Influencer gegen die Diskriminierung, die er deshalb erfuhr. Dann hatte er genug. Und findet sich nun neu. Eine Geschichte über Jugendliche, die jenseits der Kategorien Frau und Mann leben.
Publiziert: 06.08.2022 um 15:25 Uhr
|
Aktualisiert: 25.03.2023 um 21:55 Uhr
Rebecca Wyss

Die meisten Frauen, die zu Vincenzo kommen, tragen ihre Haare lang. Und wollen sie färben lassen. Am liebsten blond. Und so ist er als Lehrling vor allem damit beschäftigt, ihre Weiblichkeit zu unterstreichen. Er sagt: «Schade, das haben viele gar nicht nötig.» Und denkt insgeheim auch ein bisschen an sich. An das vergangene Jahr, als er, in einem Männerkörper geboren, mit manikürten Nägeln und Langhaar-Perücke morgens aus dem Haus ging. Als er dachte: Mit kurzen Haaren bin ich keine Frau, die Gesellschaft checkt das einfach nicht.

Vincenzo (18) sitzt in einem Zürcher Café, rechts ein Kristallstecker im Ohr, die Haare schwarz und Vokuhila, die Beine weit gespreizt. Die Kunstnägel, die Perücke – alles ist weg. Vincenzo will keine Frau mehr sein.

Vincenzo ist in der Agglomeration von Zürich aufgewachsen.
Foto: STEFAN BOHRER

Wer bin ich? Zu allen Zeiten beschäftigt Jugendliche diese Frage. Bis vor kurzem waren sie sich zumindest in einem Punkt meist sicher: dem Geschlecht. Doch das ändert sich gerade. Man sieht es auf den Schulhöfen, junge Frauen tragen Sackos in Übergrösse, Jungs haben die Nägel lackiert.

Auch Prominente machens vor. Als Jennifer Lopez (53) mit ihrem Kind Emme (14) vor einem Monat ein Konzert gab und in der Anmoderation für es die englischen Pronomen «they/them» verwendete – die non-binäre Menschen oft benutzen. Menschen also, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen.

LGBT, trans und non-binär: Das bedeutet es

LGBT ist ein englisches Akronym und steht für: lesbian (lesbisch), gay (schwul), bisexual (bisexuell), transgender (trans). Bei trans Menschen stimmt die Geschlechtsidentität eines Menschen nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht überein – trans Frauen wurden bei ihrer Geburt wegen ihrer körperlichen Merkmale als Jungen eingeordnet, trans Männer als Mädchen. Non-binäre Menschen leben jenseits der Unterteilung in die zwei Kategorien von «Frau» und «Mann». Sie können dabei eine geschlechtslose, zweigeschlechtliche oder fliessende Geschlechtsidentität haben.

LGBT ist ein englisches Akronym und steht für: lesbian (lesbisch), gay (schwul), bisexual (bisexuell), transgender (trans). Bei trans Menschen stimmt die Geschlechtsidentität eines Menschen nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht überein – trans Frauen wurden bei ihrer Geburt wegen ihrer körperlichen Merkmale als Jungen eingeordnet, trans Männer als Mädchen. Non-binäre Menschen leben jenseits der Unterteilung in die zwei Kategorien von «Frau» und «Mann». Sie können dabei eine geschlechtslose, zweigeschlechtliche oder fliessende Geschlechtsidentität haben.

Für sie ist Geschlecht fluid

Schon im Bauch der Mutter werden wir als Bub oder Mädchen eingeordnet, XY oder XX – die Zweiteilung, das Binäre, zieht sich durch unser aller Leben: Ob wir uns im Spital anmelden oder online shoppen, immer fragt man nach «Herr» oder «Frau», «männlich» oder «weiblich». Die beiden Kategorien schaffen Ordnung. Diese kippt die junge Generation nun. Sie reisst die alte Geschlechter-Karte ein: Es gibt nicht nur Frau und Mann, sondern ganz viel dazwischen. Geschlecht ist fluid. Ein Zwischenland tut sich auf. Zu seinen Bewohnern gehört Henrik Amalia von Dewitz (27), non-binär. Und Vincenzo.

Vincenzo im Mai vor einem Jahr am Zürcher Seebecken.
Foto: Valeriano Di Domenico

Seine Veränderung fing mit dem Lockdown an, als ihn niemand sah. Er zog bauchfreie Tops an, machte sich die Nägel, das Make-up. Dann starb sein Vater. Vincenzo sagt: «Ab da war mir weniger wichtig, was andere denken.» Und er ging nur noch in «Girlie-Kleidern» aus dem Haus.

«Immer mehr Leute merken jetzt, dass man das sein darf!»
0:50
Henrik Amalia ist non-binär:«Immer mehr Leute merken jetzt, dass man das sein darf!»

Wir trafen Vincenzo im Mai vor einem Jahr. Da war er mit seinen queeren Freunden Lindi, Amadou und Rayna unterwegs. Was die Jugendlichen einte: die Diskriminierungserfahrung. Vincenzo und Rayna, eine Transfrau, luden Videos auf ihre Social-Media-Accounts hoch. Erzählten vom Hass, der ihnen entgegenschlug. Wurden zu Tiktok-Stars. Die Folge war: noch mehr Ablehnung. Noch mehr Angriffe. Zum Beispiel 2021 am Zürcher Seebecken, bei der Stadi-Szene, der Masse von Agglo-Jungs im Testosteronrausch. Dort schlug einer von ihnen Vincenzo mit der Faust ins Gesicht. Vincenzo sagte damals: «Ich bin glücklich, wenn jemand nur Schwuchtel zu mir sagt.»

Amadou, Lindi, Vincenzo und Rayna (von links).
Foto: Valeriano Di Domenico

Jetzt ist alles anders. Die alten Social-Media-Konten sind gelöscht, mit ihnen das alte weibliche Ich. Vincenzo sagt: «Mit der Zeit merkte ich, dass ich es nicht für mich gemacht hatte.» Er habe eine Rolle gespielt. Jetzt schrieben einige seiner Freundin Rayna, sie müsse auch so werden wie er. «Meinen Fall verallgemeinern jetzt viele. Bei mir wars eine Phase. Bei vielen anderen nicht.»

«Ich bin glücklich, wenn jemand nur Schwuchtel zu mir sagt»
3:28
Hass auf LGBT in der Schweiz:«Ich bin glücklich, wenn jemand nur Schwuchtel sagt»

Die Angst vor dem Outing der Kinder

Das neue Zwischenland bricht durch, sorgt für Beben. Auch an Schulen und bei Eltern. Eine neue alte Angst geht um. Die Angst vor dem Outing der Kinder. Man kennt es von früher, als Homosexualität als jugendgefährdend, als ansteckend galt.

Man hört es in der Kafi-Pause bei der Arbeit. Ein Vater aus einer Gemeinde am rechten Zürichseeufer erzählt, dass die Schule seines Sohnes gerade für ein Transkind eine geschlechtsneutrale Toilette eingerichtet hat. Er sagt energisch: «Was, wenn mein Siebenjähriger eines Tages ein Mädchen sein will?»

Das ist symptomatisch für die aktuelle Geschlechter-Debatte.

Die Feministin Alice Schwarzer (79) behauptet in ihrem neuen Buch «Transsexualität», dies sei nur ein Trend. «Vor allem immer mehr Mädchen und junge Frauen geraten in den Gendertrouble.» Sie hielten ihr Unbehagen an den widersprüchlich werdenden Frauenrollen für «transsexuell». Und Nadia Brönimann (53), die bekannteste Transfrau im Land, sagte Anfang Jahr in der «SonntagsZeitung»: Nur ein Teil der Trans-Jugendlichen empfinde wirklich so, und viele andere seien «von den sozialen Medien beeinflusst».

Das Zwischenland als gefährliche Modeerscheinung, als Accessoire, das man wegwirft, wenns nicht mehr passt, so die These. Davon halten Fachleute nichts. David Garcia Nuñez, Psychiater und Leiter des Innovations-Focus Geschlechtervarianz am Universitätsspital Basel, sagt: «Die These ist falsch – und kontraproduktiv.» Das zeigt Vincenzos Geschichte.

Plötzlich fühlte sich Vincenzo «depri»

Anfangs lief es gar nicht schlecht. Er musste zwar «Hate» einstecken, hatte aber seine Freunde und sagt: «Ich habe mich stark gefühlt.» Auch weil er einen Plan hatte, er sparte sein ganzes Geld für diese eine Sache: eine Perücke. Endlich lange Haare. Weil anderes nicht möglich war: «Ich hätte gerne von Natur aus Brüste gehabt.» Alles, um als «richtige Frau» wahrgenommen zu werden.

Erst fühlten sich die langen Kunsthaare sexy an. Anfang Jahr dann der Tiefschlag. Seine Stimmung änderte sich. «Ich ging depri aus dem Haus, kam depri heim, weinte zu Hause», sagt er. Grundlos, meinte er. Vincenzo war verwirrt. Bis ihm immer häufiger ein Gedanke kam: Wie wäre es, wenn er sich die Haare schneiden, mehr wie ein Typ aussehen würde?

Irgendwann traf er einen Entscheid.
Foto: STEFAN BOHRER

Eine Statistik zum Thema Trans- und non-binäre Geschlechtsidentität gibt es keine. Forscherinnen und Forscher schätzen: Ein halbes bis drei Prozent der Bevölkerung sind Transmenschen. Die Nationale Ethikkommission (NEK) geht von bis zu 154'000 non-binären Personen in der Schweiz aus.

Mehr Transmenschen lassen Geschlechtseintrag ändern

Seit Anfang Jahr können Transmenschen ihren Geschlechtseintrag neuerdings ohne medizinische Bestätigung auf den Zivilstandsämtern ändern. Alleine bis jetzt zählen die Kantone Zürich, Bern, Basel-Stadt und St. Gallen zusammen schon 344 Änderungen. Im Kanton St. Gallen ist die Hälfte von ihnen zwischen acht und 22 Jahren. Zum Vergleich: 2019 und 2020 waren es pro Jahr noch 200 Änderungen.

Seit Anfang Jahr können Transmenschen ihren Geschlechtseintrag neuerdings ohne medizinische Bestätigung auf den Zivilstandsämtern ändern. Alleine bis jetzt zählen die Kantone Zürich, Bern, Basel-Stadt und St. Gallen zusammen schon 344 Änderungen. Im Kanton St. Gallen ist die Hälfte von ihnen zwischen acht und 22 Jahren. Zum Vergleich: 2019 und 2020 waren es pro Jahr noch 200 Änderungen.

Deshalb nehmen die Outings zu

Immer mehr von ihnen melden sich bei den Fachstellen. Das Team des Innovations-Focus Geschlechtervarianz, die einzige interdisziplinäre Anlaufstelle für Trans- und non-binäre Menschen in der Schweiz, behandelt 300 Personen pro Jahr, führt 80 Operationen wie Brustentfernung oder Penisaufbau durch. Das sind zehn Mal mehr Personen und vier Mal mehr Operationen als vor zehn Jahren. Alleine 40 Namen stehen derzeit auf der Warteliste. Wer sich jetzt für einen Termin meldet, muss sich bis November gedulden. Ähnlich bei der Gendersprechstunde des Inselspitals in Bern, dort sind 150 Personen in Behandlung – vor 15 Jahren war es ein Drittel.

Annette Kuhn, die die Sprechstunde seit damals leitet, sagt: «Von einer Modeerscheinung kann in den allermeisten Fällen keine Rede sein.» Vor allem wenn man an all die Menschen denke, die unter einer Geschlechtsdysphorie leiden würden. All jene also, die psychisch damit kämpfen, dass ihre Geschlechtsidentität – ihr Gefühl, Frau, Mann oder dazwischen zu sein – nicht mit ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht, ihrem Körper, übereinstimmt.

Die Ärztin: Annette Kuhn.
Foto: zVg

Sie sagt auch: Früher gab es wahrscheinlich nicht weniger Trans- oder non-binäre Menschen. «Heute äussern Junge und Ältere mehr ihre Gefühle.» Und stossen eher auf sensibilisierte Lehrerinnen und Lehrer, im Idealfall auch Eltern.

Manchmal dauert es lange, bis man weiss, wer man ist. Vor allem, wenn es sozial nicht erwünscht ist. Davon erzählen die Homosexuellen-Outings von Leuten in ihren Fünfzigern oder Sechzigern. Ähnlich ist es mit der Geschlechtsidentität. Und da hat die Transfrau Nadia Brönimann wohl recht: Vielleicht muss es erst Kategorien wie «trans» oder «non-binär» geben und diese über die Medien in die Gesellschaft einsickern, damit die Menschen sich ausprobieren und am Ende, wenn sie sich einigermassen gefunden haben, sie selbst sein können.

Ein schwieriger Entscheid für Vincenzo

Nichts anderes wollte Vincenzo immer: er selbst sein. Seit ein paar Wochen hat er einen neuen Instagram-Account, da teilt er nun Videos von sich, auch solche aus dem Fitnessstudio, wo er Gewichte stemmt. Kraft. Muskeln. Sein Körper verändert sich. So wie sein Look.

Im vergangenen Frühling traf er einen Entscheid: Er wollte weite Shirts und Hosen tragen. Typenklamotten. Schauen, wie’s tut. Zwei Tage lief er so herum, bekam Zweifel, griff fast wieder zu seinen «Girlie-Outfits». «Ich schämte mich damit», sagt er. Fühlte sich verletzlich. Doch seine Mutter sagte: «Mach jetzt keinen Rückzieher, Vincenzo, vielleicht bereust du es.» Also machte er weiter – und einen radikalen Schritt: Er liess sich die Haare schneiden. In der Schule sorgten sich die Kollegen: «Vinc, was ist los? Ist es wegen des Hates?»

Beim Treffen im Zürcher Café sagt er: «Ich dachte, das sei ich. Aber letztlich wollte ich eine Frau sein, damit ich von den Typen Aufmerksamkeit bekomme.» Bei denen sei er, ein zierlicher Mann, immer unbeliebt gewesen. Er habe früh gemerkt: Als Frau gefällst du ihnen.

Die gleichen Jungs, die Vincenzo vor einem Jahr noch als «Transformer», als Mutanten, beschimpften, schlagen nun zur Begrüssung in seine Hand ein, wenn sie ihn sehen. Nur wegen seines Styles, sagt er. «Ich bin immer noch die gleiche Person, denke immer noch ähnlich.»

Machen wir alle uns mal locker

Den Psychiater David Garcia Nuñez überrascht das nicht. Er sagt: «Männer, die sich feminin zeigen, sind nach wie vor das grosse Tabu.» Vor 100 Jahren steckte man Frauen mit Hosen ins Gefängnis. Frauen erkämpften sich in Bezug auf die Geschlechterrollen Freiräume. Männer nicht. Menschen wie Vincenzo versuchen das nun. Was gerade Männer als Angriff auf ihre Werte, auf ihr selbst, betrachten. «Für jemand, der sich selbst am Ausprobieren ist, ist das schwierig zum Aushalten», sagt Nuñez.

Der Psychiater: David Garcia Nuñez.

Die Risse im binären System werden grösser, die alte Geschlechterordnung arrangiert sich neu. Unaufhaltsam. Die Gesellschaft muss so oder so einen Umgang damit finden. Warum nicht mit einer Frage anfangen: Was brauchen Menschen wie Vincenzo, damit sie glücklich werden?

Der Psychiater Garcia Nuñez sagt: «Wenn wir alle uns bezüglich Geschlecht entspannen würden, würde ich nicht so viele Leute in meiner Sprechstunde sehen.» Anders gesagt: Wenn wir das Frau- oder Mannsein weniger wichtig nehmen, Geschlecht nebensächlicher wird, nimmt das für alle Druck raus. Dann können Männer weinen, depressiv sein und sich ohne Scham Hilfe holen. Und Frauen ohne schlechtes Gewissen mehr als ihre Partner verdienen, furzen und breitbeinig dasitzen.

Dann kann man auch leichter gute rechtliche Bedingungen schaffen. Die Städte Luzern und Zürich machen es vor, wollen geschlechtsneutrale Toiletten und Garderoben an den Schulen durchsetzen. Oder Deutschland, da können non-binäre Menschen im Pass den Geschlechtseintrag löschen oder sich als «divers» eintragen lassen, die dritte Option neben «weiblich» und «männlich».

Vincenzo wünscht sich nur eines: «Hören wir auf, eine Rolle zu spielen.» Und dass mal eine Frau in den Coiffeurladen käme und sagte: Ab damit. Glatze. «Oh my God. Mutig!» Er selbst hat nach dem Fototermin mit uns optisch wieder mal ein Update gemacht: Die Haare sind noch kürzer. Und blond.

«Hören wir auf, eine Rolle zu spielen.»
Foto: STEFAN BOHRER
LGBT: Hast du Fragen? Hier findest du Antworten:

LGBT-Helpline, Tel. 0800 133 133
Transgender Network Switzerland
Lilli.ch, Information und Verzeichnis von Beratungsstellen
Milchjugend, Übersicht von Jugendgruppen
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 044 256 77 77

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