Auf einen Blick
- Eltern und Kinder erleben heute rund 60 Jahre gemeinsam
- Autor Stephan Schäfer hat ein Buch mit 100 Fragen für Eltern geschrieben
- Alterspsychologin Bettina Ugolini erklärt, weshalb wir unsere Eltern besser kennenlernen sollten
Die CD ist schon in der Stereoanlage. Die 72-Jährige drückt auf den Play-Knopf und dreht die Lautstärke auf. Sie mag es richtig laut. Synthesizer legen einen sphärischen Klangteppich. Dann setzt die Gitarre ein. Morgens hört die Mutter von Stephan Schäfer (50) gerne den Song «Brothers in Arms» der britischen Rockband Dire Straits. «Das habe ich nicht gewusst», sagt er. So, als ob er es noch immer nicht glauben könne. «Jetzt werde auch ich mein Leben lang Dire Straits hören.» Was er bis vor kurzem auch nicht wusste: Seine Mutter wollte mal Kinderkrankenpflegerin werden. Und wenn sie ihre Augen schliesst und sich ihren Sohn vorstellt? Dann sieht sie ihn als Kindergartenkind mit Latzhose.
Kenne ich meine Mutter wirklich? Wovon träumt Sie? Und wer war sie, bevor sie Kinder hatte? Schäfer und seine Mutter sind nun seit 50 Jahren Sohn und Mutter, aber Schäfer musste älter werden, um sich über diese Fragen Gedanken zu machen. Und um zu realisieren, dass er die Antworten darauf nicht kannte. «Wir telefonieren zwar regelmässig, aber ich merkte, dass ich über meine Freunde viel mehr wusste als über meine Mutter.»
Fragen an die Eltern
Also nahm er sich vor, sie besser kennenzulernen. Der ehemalige Journalist und Autor des «Spiegel»-Bestsellers «25 letzte Sommer» begann, all die Fragen aufzuschreiben, die ihn interessierten. Daraus entstand «Das Buch, das bleibt»; es ist kürzlich erschienen. Ein Buch mit 100 Fragen, unterteilt in drei Lebenskapitel, die sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft widmen. Es gibt zwei Ausführungen mit denselben Fragen. Eine für den Vater und eine für die Mutter. Darin enthalten sind Fragen wie: «Was erfüllt dich mit Hoffnung?», «Bist du manchmal einsam?», «Gab es ein Thema in deiner Familie, das tabu war?» oder «In welchem Alter warst du am glücklichsten?». Bei jeder Frage ist Platz, um die Antworten schriftlich festzuhalten – oder das Kind und der Elternteil tauschen sich einfach mündlich über die Fragen aus.
Das Buch solle nicht dazu dienen, zerrüttete Beziehungen zu kitten – mit seinem Vater hat Schäfer seit langem keinen Kontakt mehr –, aber es soll Väter und Mütter zum Erzählen bringen. Und gegen die Sprachlosigkeit ankämpfen, die in Familien herrscht. Schäfer: «Viele meiner Freunde haben mir gesagt, dass sie nie gelernt hätten, innerhalb der Familie richtig miteinander zu sprechen.»
Viel gemeinsame Lebenszeit
Nur: Tiefe, innige Gespräche mit seinen Eltern zu führen, auch wenn man guten Kontakt hat, ist gar nicht so einfach. Oftmals bleiben sie oberflächlich. Es gibt zu viele Alltagsdinge zu besprechen, an Familienfeiern rennen Kinder herum, es bleibt kein Raum, um Fragen zu stellen. Gespräche mit Eltern können aber auch emotional und nervenaufreibend sein. Vor allem wenn man in die Eltern-Kind-Rolle zurückfällt und alte Muster wiederholt.
Hinzu kommt, dass die Eltern-Kind-Beziehung sich je nach Lebensphase verändert. Innerhalb des Konstrukts Familie positionieren sich Eltern und Kinder fortlaufend neu. Und auch die Gesprächsthemen ändern sich. Wenn das Kind auszieht, in einer anderen Stadt studiert oder selber Kinder hat, dann hat es vielleicht keine Zeit und auch kein Interesse, seine Eltern mit Fragen zu löchern. Denn diese sind in der Regel noch fit und haben ihr eigenes Leben, genauso wie die Kinder.
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Fakt ist aber, dass wir immer mehr Zeit haben, um Gespräche mit unseren Eltern zu führen und unsere Beziehung zueinander neu zu verhandeln. Denn wir leben durchschnittlich immer länger. Das heisst: viel gemeinsame Lebenszeit. Heute erleben Eltern und Kinder rund 60 Jahre zusammen. Das ist etwa dreimal so viel wie noch vor 100 Jahren. Wir sind also immer länger Tochter, Sohn, Mutter oder Vater. Können Grossmutter sein, in Rente gehen und gleichzeitig immer noch Kind sein. Eine lange Beziehung also – im Leben vieler die längste. Wie kann man in der späten Lebensphase der Eltern gut miteinander kommunizieren? Und welche Herausforderungen bringen diese langen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern mit sich?
Konflikte zwischen Eltern und Kindern
Anruf bei Bettina Ugolini (62). Die Alterspsychologin leitet die Psychologische Beratungsstelle «Leben im Alter» am Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich. Mit der späten Eltern-Kind-Beziehung kennt sie sich aus: Sie führt Familienberatungen durch und hat vergangenes Jahr gemeinsam mit der Pädagogin und Journalistin Cornelia Kazis den Ratgeber «Alte Bande: Wie in späten Jahren eine Beziehung auf Augenhöhe zwischen Eltern und Kindern gelingen kann» herausgegeben.
Sie beobachtet in der Familienberatung schon seit längerem immer wieder Konflikte zwischen alternden Eltern und ihren erwachsenen Kindern. «Ein grosses Thema sind Schuldgefühle», sagt Ugolini. Die Fragen, welche Aufgaben man für seine Eltern übernehmen müsse, wo man sich abgrenzen dürfe und was man seinen Eltern schuldig sei, kämen immer wieder auf. Sie erzählt aber auch von Seniorinnen und Senioren, die sich beklagen würden, dass die Beziehung zu ihren Kindern nicht so sei, wie sie es sich wünschen würden. «Viele fühlen sich von ihren Kindern bevormundet.»
Rollen sollten sich nicht umkehren
Zwar seien Eltern ihr Leben lang Eltern und Kinder ihr Leben lang Kinder, aber: «Wenn die Eltern fragiler, verletzlicher und abhängig werden, ändert sich die Beziehung zwischen ihnen», sagt Ugolini. Genau da liegt die Tücke, so die Alterspsychologin: «Es ist wichtig, dass die Beziehung trotzdem auf Augenhöhe bleibt.» Denn eine Rollenumkehr, in der Kinder quasi die Elternrolle übernehmen, sei weder notwendig noch hilfreich. Und auch nicht möglich: «Man bleibt das erwachsene Kind, auch wenn man möglicherweise mehr Unterstützung gibt als zuvor», erklärt sie.
In der Praxis geschehe jedoch häufig genau diese Rollenumkehr: Kinder bevormunden ihre Eltern oft unbewusst, zum Beispiel mit Aussagen wie «Du solltest mehr trinken» oder «Du musst raus und dich bewegen» – Ratschläge, die gut gemeint, aber oft fehl am Platz sind. «Solche Anweisungen laufen schnell in eine Sackgasse, denn die Eltern reagieren mit Widerstand», erklärt Ugolini. Sie empfiehlt, eine Perspektive zu wählen, die man auch mit einem Freund oder einer Freundin einnehmen würde. Statt Anweisungen zu erteilen, könnte man fragen: «Gibt es etwas, das ich für dich tun kann?»
Seine Eltern als Menschen kennenlernen
Diese Art der Kommunikation ermöglicht, dass das Gespräch nicht von oben herab geführt wird. Was dabei auch hilft: seine Eltern nicht nur als Eltern, sondern als Menschen zu sehen. Fachleute bezeichnen das als «filiale Reife». Studien zeigen, dass sich die Beziehung zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern verbessert, wenn sie einander als Individuen mit eigener Vergangenheit behandeln und losgelöst von der Elternrolle betrachten. Anders gesagt: als Gleichgestellte.
Auch Bettina Ugolini rät, die Eltern als ganze Menschen kennenzulernen – jenseits ihrer Rolle als Mutter oder Vater. Denn das würde eine tiefere Wertschätzung und ein tieferes Verständnis ermöglichen. Dass Kinder ihre Eltern auf diese Weise kennenlernen wollen, komme aber nicht häufig vor, sagt Ugolini. Häufig müsse sie solche Gespräche in der Familienberatung anstossen. Und hier kommen Fragen wie die von Stephan Schäfer ins Spiel. «Wenn man etwa nach den Jugendträumen oder Hoffnungen der Eltern fragt, schärft das den Blick für ihre Biografien», sagt sie. Die Antworten auf solche Fragen würden oft auch Erklärungen liefern für frühere Entscheidungen oder die Erziehung.
Solche Gespräche sollten aber nicht zum Ziel haben, die Eltern von jeglicher Verantwortung freizusprechen. «Es geht nicht ums Verzeihen auf Biegen und Brechen, sondern darum, das Gesamtbild der Eltern als Personen zu erkennen», sagt die Psychologin. Und darum, zu verstehen, dass die Elternrolle nur eine von vielen Rollen ist, die sie im Leben eingenommen haben. «Wir werden unseren Eltern nicht gerecht, wenn wir sie nur als Vater oder Mutter anschauen.»
Eltern nicht mit Fragen überfallen
Was aber, wenn Eltern nicht mit einem reden wollen? Ugolini rät zur Geduld. «Oftmals steigt die Bereitschaft zu reden mit dem Alter.» Keinesfalls sollte man seine Eltern mit Fragen überfallen, sondern sich herantasten. Ein guter Gesprächsanlass wäre zum Beispiel, wenn jemand im näheren Umfeld stirbt. «Dann kann man sich seinem Vater oder seiner Mutter zuwenden und sagen: ‹Dieser Tod hat mich wachgerüttelt und mir bewusst gemacht, dass ich vieles über dich nicht weiss. Ich würde gerne ein paar Sachen wissen. Magst du mir erzählen?›»
In der letzten Lebensphase drängen sich auch Themen wie Krankheit oder Tod auf. Auch hier rät Ugolini zu einem vorsichtigen Vorgehen. «Solche Themen sollten niemals beiläufig angesprochen werden», betont sie. Stattdessen empfiehlt sie, die Gespräche vorzubereiten und anzukündigen: «Mich beschäftigt ein wichtiges Thema, das ich das nächste Mal, wenn wir uns sehen, gerne besprechen würde.» Auch rät sie, die eigene Unsicherheit offen anzusprechen. Etwa so: «Für mich ist es schwer, mit dir darüber zu sprechen, aber es würde mir Sicherheit geben, wenn ich wüsste, was für eine Beerdigung du dir wünschst.» Im Grunde also: das Gespräch gut einbetten und die eigenen Bedürfnisse kommunizieren.
Gute Gespräche für einen guten Abschied
Auch ein Fragebuch, wie das von Stephan Schäfer, könne sich dazu eignen, ein Gespräch mit den Eltern zu beginnen. «Ich persönlich würde es als Arbeitsbuch für mich als Kind nehmen und mir überlegen, welche Fragen daraus mich neugierig machen», so Bettina Ugolini. «Anstatt beim nächsten Elternbesuch zu fragen, was sie gegessen haben oder ob man noch etwas für sie einkaufen soll, kann man so den gemeinsamen Gesprächen und der Zeit, die man miteinander verbringt, einen anderen Inhalt geben.»
Es gibt noch einen anderen guten Grund, Gespräche mit seinen Eltern zu führen und sie besser kennenzulernen: der Abschied von ihnen. Ugolini: «Wenn Kinder eine gute Beziehung zu ihren Eltern wollen, tun sie gut daran, sie als Menschen zu verstehen und die Beziehung zu klären, bevor sie endgültig aus dem Leben gehen.»
Als Stephan Schäfer das Buchmanuskript seiner Mutter gab, sagte sie ihm, dass es das Schönste sei, was er ihr je gegeben hatte. «Sie meinte, dass sie gar nicht wusste, dass ich mich so für sie interessiere.» Sie fühlte sich gesehen.
Er spreche heute anders mit seiner Mutter. Wenn er sie anrufe, wundere sie sich nicht, wenn er in die Tiefe gehen wolle. «Wir haben ganz eine andere Grundlage. Ich habe das Gefühl, ich kann mit meiner Mama auf Augenhöhe reden, so, wie ich es oft mit Freunden tue.» Er wisse jetzt, dass sie ihre Schwester sehr vermisse, die verstorben ist. Oder dass sie damals nicht Kinderkrankenpflegerin geworden sei, weil sie so jung Mutter geworden war.
Autor füllt Buch für seine Kinder aus
Schäfer hat mit seiner Mutter noch nicht über alle 100 Fragen aus seinem Buch gesprochen. Aber viele habe sie beantwortet. «Auf die Frage, was ich ihr im Leben noch geben kann, hat sie gesagt: ‹Schenk mir gemeinsame Zeit.›»
Im Hinblick auf den Abschied von ihr sagt Schäfer: «Für mich wäre es schlimm gewesen, wenn meine Mutter verstirbt und ich zu spät gemerkt hätte, dass ich nicht genug Interesse in unsere Beziehung gesteckt, ihr all diese Fragen nicht gestellt hatte.» Wenn er nicht gewusst hätte, wer seine Mutter ist ausser Mutter. Stephan Schäfer ist jetzt dabei, selber Antworten auf die 100 Fragen in seinem Buch zu formulieren. Sodass auch seine Kinder erkennen, dass er mehr ist als nur ihr Vater.
Stephan Schäfer, «Das Buch, das bleibt: 100 Fragen an meine Mutter», «Das Buch, das bleibt: 100 Fragen an meinen Vater», Park x Ullstein Verlag.