Ein Schuss donnert über die verschneiten Hügel. Der Rückstoss jagt die Panzerhaubitze rückwärts. Die Aufnahme zeigt eine Militärübung der Schweizer Armee. Einer der Männer in Tarnfarben ist Tenzin Lamdark (46). Zivil ist er Beauftragter für den koordinierten Sanitätsdienst im Bundesamt für Bevölkerungsschutz. Zuvor war er Oberarzt am Kantonsspital Winterthur. Im Militär ist er Abteilungskommandant der Artillerie.
«Wir trainieren unsere Verteidigung», sagt Lamdark im Film «Der Oberstleutnant». Eine Dokumentation, die in der Filmreihe «Kurzgeschichten aus Winterthur» der Produktionsfirma Islandart entstanden ist. Obwohl Lamdark wegen seiner Kurzsichtigkeit eigentlich untauglich gewesen wäre, entschied er sich für den Militärdienst. Denn von seinen Eltern weiss er, was es heisst, sein Land zu verlieren.
Zu Fuss über den Himalaya
Endlose Grassteppen, weisse Gipfel, raue Hochebenen. «Meine Eltern stammen aus Tibet», erzählt Lamdark vor laufender Kamera. Eigentlich kamen seine Mutter und sein Vater in weit entfernten Gebieten zur Welt. Doch in den 1950er-Jahren marschierte China in das buddhistische Nachbarland ein.
«Die Tibeter kämpften mit alten Gewehren und Schwertern gegen die kampferprobten Rotchinesen», so Lamdark über das unfaire Gefecht. «Das tibetische Militär war schwach, der Widerstandskampf hatte auch nach mehreren Jahren keinen Erfolg.» Es kam zu blutigen Kämpfen, Aufständen, Flüchtlingsströmen und zur Unterdrückung des tibetischen Volkes.
Wie viele andere mussten auch seine Eltern fliehen. Sein Vater war ein angehender Mönch aus Osttibet, der bei einem hohen Lama, einem religiösen Lehrer, lebte und arbeitete. Seine Mutter war die Tochter eines einfachen Schafzüchters. Am Vorabend der Flucht warnte ein Bekannter die Familie der Mutter: «Ihr seid als Nächstes dran.» Sie schnappten sich, was sie tragen konnten, und flohen aus ihrem kleinen Dorf zu Fuss über den Himalaya nach Indien.
Ein Bild konnte Lamdarks Mutter, bei der Flucht noch ein kleines Mädchen, ihr Leben lang nicht vergessen: Die vielen Feuer, die auf der gefährlichen Flucht immer wieder am Strassenrand glühten. Feuerbestattungen der Flüchtenden, die der Erschöpfung, dem Hunger oder einer Krankheit erlegen waren.
Das überwachte Zuhause
Die Ströme verzweifelter Tibeterinnen und Tibeter, die mit einfachsten Kleidern über das höchste Gebirge der Welt in eine ungewisse Zukunft flüchteten: Das tragische Schicksal Tibets ging um die Welt. Und löste unter anderem in der Schweiz eine Solidaritätsbewegung aus.
Kein anderes westliches Land nahm damals so viele Tibeterinnen und Tibeter auf: Rund 8000 sind es bis heute. Die bündnerische Gemeinde Samedan baute ein altes Gasthaus in ein sogenanntes Tibeterheim um. «Als die Geflüchteten ankamen, wurden sie von der Dorfbevölkerung warmherzig mit Musik empfangen. Sie fanden schnell Arbeitsstellen und wurden gut integriert», sagt Lamdark. Er weiss das, weil es ihn ohne dieses Tibeterheim nicht gäbe: Seine Eltern haben sich in Samedan kennengelernt.
1997 reiste seine ganze Familie gemeinsam mit Schweizerpässen nach Tibet. «Meine Eltern wollten mir und meinen Geschwistern zeigen, wo sie hergekommen sind», sagt Lamdark. Schon bei der Einreise spürte er deutlich, dass Tibet ein besetztes Land ist. Zwei chinesische Sicherheitsbeamte befragten seine Familie, wussten perfekt Bescheid: Wer welche Lehre gemacht hat, wer wo arbeitet. «Einfach um uns zu zeigen, dass sie uns im Auge haben», erinnert sich Lamdark.
Militär
Nach wie vor gilt der Konflikt als ungelöst: China bezeichnet einen Teil Tibets als «autonome Region» des eigenen Landes und hat andere Teile chinesischen Provinzen zugeteilt. Währenddessen setzen sich weltweit unzählige Tibeterinnen und Tibeter sowie ihre internationalen Unterstützer für ihre Unabhängigkeit ein. Seit 1959 besteht eine tibetische Exilregierung mit Sitz in Indien, die offiziell zwar nicht anerkannt, aber von vielen Ländern unterstützt wird. China regiert Tibet mit harter Hand und hat die Grenzkontrollen verstärkt, so dass eine Flucht nur noch selten gelingt.
Einerseits sei die Reise schön gewesen. Sie trafen Verwandte, die überlebt hatten. «Andererseits war es auch sehr traurig: Überall gab es Kontrollen, Kameras, Überwachung.» Auch kleinste Dörfer wurden morgens und abends via Lautsprecher mit kommunistischen Sprechchören beschallt. «An manchen Orten erfuhren wir, dass kurz zuvor willkürlich Tibeterinnen und Tibeter erschossen wurden», sagt Lamdark.
Der Ukrainekrieg schafft neues Sicherheitsbedürfnis
Lamdark trägt Brille und schwarzes Berét. Aus Überzeugung hat er seinen Dienst geleistet und sich vom Soldaten zum Unteroffizier, Offizier, Kommandant, zum Generalstabsoffizier und schliesslich zum Abteilungskommandant hochgearbeitet. Die Erkenntnisse und Erfahrungen, die er in der Armee gesammelt hat, helfen ihm früher auch im Spitalalltag: «Zum Beispiel, wenn es wie während der Pandemie ums Planen und Durchführen geht.»
Er blickt in die Kamera. «Seit dem Ukrainekrieg ist man überzeugter als sonst, dass es notwendig ist, den Dienst zu leisten.» Die russische Armee, die das Kriegsvölkerrecht missachtet und Zivilistinnen und Zivilisten angreift. Ein Land, das sein Nachbarland überfällt, Tausende Menschenleben auslöscht. Umso mehr will Lamdark zur Sicherheit beitragen. Dass seine Eltern ihr Land und ihre Freiheit verloren haben, hat ihn tief geprägt. «Uns soll nicht das Gleiche passieren.»