Sedina Delić-Tanović hat Völkermord von Srebrenica überlebt – jetzt erzählt sie Schweizer Jugendlichen vom Krieg
«Wir wussten nie, wann man auf uns schiessen würde»

Sedina Delić-Tanović entkam dem Völkermord von Srebrenica. Als Kind erlebte sie ihn mit und schildert heute Schulklassen ihre traumatischen Erlebnisse. Wir haben sie begleitet.
Publiziert: 13.07.2024 um 12:04 Uhr
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Aktualisiert: 13.07.2024 um 15:55 Uhr
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Sedina Delić-Tanović (35) hat den Krieg in Bosnien-Herzegowina und den Völkermord von Srebrenica als Kind miterlebt.
Foto: ANDREA SOLTERMANN
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Aleksandra HiltmannRedaktorin Gesellschaft

Sedina Delić-Tanović (35) sitzt auf einem Stuhl und atmet ein paar Mal tief ein. Es ist, als würde sie Anlauf holen. Gleich wird sie über etwas sprechen, worüber sie lange geschwiegen hat. Den Krieg in Bosnien-Herzegowina, den Völkermord von Srebrenica. Sie hat überlebt – als Kind. Heute erzählt sie Schulklassen davon.

11. Juli – neu Internationaler Gedenktag für den Genozid von Srebrenica

Am 24. Mai 2024 hat die Uno-Generalversammlung den 11. Juli zum Internationalen Gedenktag für den Völkermord von Srebrenica erklärt. Die entsprechende Resolution verurteilt zudem, dass der Genozid geleugnet und die Täter verherrlicht werden.

84 Mitgliedsstaaten stimmten für den Entwurf der Resolution, unter anderem die Schweiz. 86 Länder enthielten sich. Gegen den Text stimmten nebst Serbien unter anderem China und Russland.

Im Vorfeld der Uno-Abstimmung mobilisierte der serbische Präsident Aleksandar Vučić (54) gegen die Resolution, unter anderem mit der Behauptung, man wolle das gesamte serbische Volk verurteilen. De facto wird Serbien in der Resolution nicht erwähnt.

Bosnisch-serbische und serbische Politiker leugnen den Genozid bis heute. Unter anderem nennt der serbische Präsident Aleksandar Vučić den Genozid nicht beim Namen. Milorad Dodik (65), der Präsident der Serbischen Republik innerhalb Bosnien-Herzegowinas, der Republika Srpska, sagt offen, dass es den Völkermord nie gegeben habe.

Dieser Leugnung gegenüber stehen unter anderem Gerichtsurteile. 2004 stufte das Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) Srebrenica juristisch als Völkermord ein, 2007 tat dies auch der Internationale Gerichtshof (IGH).

Definitiv eingeführt wird der «Internationale Tag der Besinnung und des Gedenkens an den Völkermord in Srebrenica von 1995» 2025. Bisher gab es weltweit Initiativen aus der Zivilgesellschaft, die am 11. Juli der Opfer des Genozids gedachten, auch in der Schweiz.

Am 24. Mai 2024 hat die Uno-Generalversammlung den 11. Juli zum Internationalen Gedenktag für den Völkermord von Srebrenica erklärt. Die entsprechende Resolution verurteilt zudem, dass der Genozid geleugnet und die Täter verherrlicht werden.

84 Mitgliedsstaaten stimmten für den Entwurf der Resolution, unter anderem die Schweiz. 86 Länder enthielten sich. Gegen den Text stimmten nebst Serbien unter anderem China und Russland.

Im Vorfeld der Uno-Abstimmung mobilisierte der serbische Präsident Aleksandar Vučić (54) gegen die Resolution, unter anderem mit der Behauptung, man wolle das gesamte serbische Volk verurteilen. De facto wird Serbien in der Resolution nicht erwähnt.

Bosnisch-serbische und serbische Politiker leugnen den Genozid bis heute. Unter anderem nennt der serbische Präsident Aleksandar Vučić den Genozid nicht beim Namen. Milorad Dodik (65), der Präsident der Serbischen Republik innerhalb Bosnien-Herzegowinas, der Republika Srpska, sagt offen, dass es den Völkermord nie gegeben habe.

Dieser Leugnung gegenüber stehen unter anderem Gerichtsurteile. 2004 stufte das Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) Srebrenica juristisch als Völkermord ein, 2007 tat dies auch der Internationale Gerichtshof (IGH).

Definitiv eingeführt wird der «Internationale Tag der Besinnung und des Gedenkens an den Völkermord in Srebrenica von 1995» 2025. Bisher gab es weltweit Initiativen aus der Zivilgesellschaft, die am 11. Juli der Opfer des Genozids gedachten, auch in der Schweiz.

An diesem Tag sitzen Schülerinnen und Schüler einer Westschweizer Berufsschule vor ihr, in einem Raum im Hospiz auf dem Simplonpass. In der Projektwoche berichten Zeitzeuginnen und -zeugen, was sie erlebt haben. «Oral History» nennt sich diese Methode.

«Ich wurde in Vlasenica, in Ostbosnien, geboren, damals Jugoslawien. Im Frühjahr 1992 beobachteten wir, wie Lastwagen voller Waffen den Grenzfluss Drina überquerten. Mein Vater war damals dort stationiert, er war Polizist.»

100'000 Tote

Bereits nach wenigen Minuten ist die Klasse mitten im Krieg, der von 1992 bis 1995 in der ex-jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Herzegowina tobte. Rund 100’000 Menschen kostete er das Leben. Delić-Tanovićs Familie lebte zu Beginn des Kriegs in Glogova, rund 40 Kilometer von Vlasenica entfernt. Auch dieser Ort wurde von serbischen und bosnisch-serbischen Einheiten überfallen.

«Wir flüchteten zu den Grosseltern in einen Nachbarort von Vlasenica. Es war das letzte Mal, dass ich meinen Vater sah.»

Zu Beginn des Kriegs wurden speziell in Ostbosnien viele nicht-serbische Menschen vertrieben, in Gefangenenlager gebracht, gefoltert und getötet. Delić-Tanović, ihre Mutter, Schwester und ihr Bruder wurden im Lager Sušica festgehalten. Gleichzeitig flüchteten ihr Vater, Onkel und Grossvater mütterlicherseits durch die Wälder.

«Als wir nach einigen Monaten aus dem Lager rauskamen, erfuhren wir, dass unser Vater tot ist. Er wurde vor unserem Haus erschossen.»

Flucht nach Srebrenica

Sie erinnert sich an den Nebel, der damals über Glogova lag. Dorthin kehrte sie nach der Gefangenschaft mit ihrer Mutter und Schwester, ihrem Bruder und den Grosseltern zurück. Sie hörte Schüsse nachhallen. Die Familie fühlte sich nicht sicher und flüchtete erneut. Diesmal nach Srebrenica. 

Im April 1993 deklarierten die Vereinten Nationen den Ort in Ostbosnien zur Schutzzone und stationierten Uno-Blauhelmsoldaten vor Ort. Sie sollten die Zivilbevölkerung beschützen.

«Srebrenica liegt in einem Tal, wie Brig. Die Landschaft erinnert mich ans Wallis. In Srebrenica waren schrecklich viele Menschen, die, wie wir, aus umliegenden Orten geflüchtet waren. Drei, vier Familien teilten sich ein Zimmer. Es gab keine richtigen sanitären Anlagen, wir hatten zu wenig zu essen.»

Sie schafft Nähe

Sedina Delić-Tanović erzählt nicht immer strikt chronologisch. Sie weiss, dass sie ab und zu den Faden verliert, warnte die Klasse vor.

«Mein Bruder war sehr krank und benötigte dringend medizinische Hilfe in einer grösseren Stadt, in Tuzla. 1993 verliessen wir Srebrenica mit einem der letzten humanitären Konvois. Eine Familie musste aus dem Lastwagen aussteigen, um für uns Platz zu machen. Sie haben uns gerettet. Wir wissen nicht, ob sie überlebt haben.»

Sedina Delić-Tanović weint. Denn sie weiss, was später geschah. 

Am 11. Juli 1995 marschierte General Ratko Mladić (82) mit seinen Einheiten in Srebrenica ein. In den darauffolgenden Tagen ermordeten bosnisch-serbische Truppen über 8000 – muslimische – Bosniakinnen und Bosniaken, vor allem Männer und Jungen. Jene, die durch den Wald nach Tuzla zu flüchten versuchten, wurden mehrheitlich erschossen.

Durch dieses umkämpfte Gebiet musste auch Sedina Delić-Tanović mit ihrer Mutter, Schwester und ihrem Bruder flüchten. Erst per Lastwagen, danach zu Fuss. Eine traumatisierende Erfahrung für die damals Fünfjährige. Und auch eine, die für die Klasse am schwierigsten anzuhören war.

Die Klasse wird emotional

«Wir wussten nie, wann man auf uns schiessen würde. Wir dachten: Das ist das Ende. Ich hielt mich an meiner Schwester und meiner Mutter fest und schaute zu Boden. Rundherum hörte ich, wie Menschen weinten.»

Als die Familie bosniakisch kontrolliertes Territorium erreichte, wurden die Flüchtenden in einer Schule untergebracht. Im Tumult verlor Delić-Tanović ihre Mutter aus den Augen. Drei Tage allein: Das war für sie eine der schlimmsten Erfahrungen, die sie später jahrelang an der Seite ihrer Mutter schlafen liess. 

Einige Schülerinnen wischen sich Tränen aus dem Gesicht. Delić-Tanović hatte für sich bereits vor Beginn ihrer Erzählung Taschentücher bereitgelegt.

Vergessen, wie Brot schmeckt

«Wir gingen weiter, durch den Wald. Im Frühling 1994 erreichten wir Tuzla. Mein Bruder wurde im Militärspital behandelt. Man gab uns Brot. Ich hatte vergessen, wie es schmeckt.»

Im Frühjahr 1994 entschied Delić-Tanovićs Mutter, dass die Schweiz ein besserer Ort war, um zu überleben. Die Telefongespräche mit bereits geflüchteten Familien hatten sie überzeugt. Der Weg hierher – eine weitere Odyssee.

Ein Cousin holte die Familie an der italienisch-schweizerischen Grenze ab und fuhr sie im Auto über das Simplon-Gebiet, nahe dem Ort, an dem die Überlebende heute erzählt.

Ende 1994 kam die Familie nach Saint-Gingolph in die Westschweiz. Von dort aus, so erinnert sich Delić-Tanović, schrieb ihre Mutter Briefe nach Bosnien. 

«Die letzten Fotos und Umschläge kamen zurück. Es gab keine Empfänger mehr. Mein Onkel und Grossvater waren tot. 2014 hat man ihre Überreste gefunden. Wir haben sie in Srebrenica beerdigt und Blut für weitere DNA-Analysen gegeben, sollte man noch weitere Überreste finden.»

Genozid wird selten thematisiert

Delić-Tanović betont immer wieder, dass sie Schlimmes erlebt, aber auch Hilfe erfahren habe. Sie pauschalisiert keine Opfer- und Tätergruppen. Aber sie möchte aufklären. «Bildung ist wichtig», sagt sie der Klasse eindringlich. Und kritisiert, dass dieser Genozid mitten in Europa so selten an Schulen thematisiert wird. 

Die Kriege von damals würden sich bis heute auf Menschen in der Schweiz auswirken. Viele seien bis heute traumatisiert, einige würden Vorurteile weitergeben, gerade an ihre Kinder.

Nach etwas mehr als einer Stunde verlassen die Schülerinnen und Schüler den Raum. Einige bleiben, suchen das Gespräch mit der Zeitzeugin, stellen Fragen, wischen sich Tränen aus den Augen. Sedina Delić-Tanović umarmt eine der jungen Frauen, bedankt sich fürs Zuhören.

Der neuen Generation Schuldgefühle nehmen

Für Sedina Delić-Tanović war es ein schwieriger Prozess, bis sie sich bereit fühlte, über das Erlebte zu sprechen. Zu Hause in ihrer Familie wurde lange geschwiegen. «Meine Mutter hat ihren Schmerz nie gezeigt. Sie lebte für uns.» Und auch Delić-Tanović gestand sich nicht ein, sich schlecht zu fühlen. Sie habe schliesslich überlebt. 

Als sie zwölf Jahre alt war, sprach sie mit ihrer Schwester über den Krieg. 2020 trat sie mit ihr zusammen erstmals öffentlich als Zeitzeugin auf, in einer Walliser Radiosendung. Andere Überlebende, die selbst zu traumatisiert sind, um selbst zu erzählen, hatten sie dazu ermutigt. Ausschlaggebend war für sie aber die Geburt ihres Sohnes. «Er soll nicht mit Hass aufwachsen.»

Delić-Tanović wünscht sich, dass Kinder mit Wurzeln im Balkan hier in der Schweiz miteinander befreundet sein können und ohne Barrieren aufwachsen. Dazu gehöre für sie, der neuen Generation die Schuldgefühle zu nehmen. «Du bist nicht schuld», «ihr seid nicht schuld», sagt sie jeweils ganz direkt. Sitzen Kinder mit serbischen Wurzeln in der Klasse, kämen diese nach den Oral-History-Stunden oft zu ihr und sagen, dass sie sich befreit fühlen.

Und auch sich hat Delić-Tanović befreit. Befreit aus dem Schweigen. Heute lebt sie in Sitten VS und engagiert sie sich in verschiedenen Vereinen, vermittelt bosnische Sprache und Kultur an Kinder und Jugendliche, ist Mitglied eines schweizerisch-bosnischen Diasporanetzwerks, organisiert Gedenkveranstaltungen mit.

Draussen vor dem Hospiz atmet sie durch. Vor ihr die Berge, die sie an Bosnien erinnern. Ganz nah bei ihr: ihr zweites Kind, das bald zur Welt kommt. Und für dessen Zukunft sie weiter vor jungen Menschen sprechen wird.

Buchtipps zum Bosnienkrieg

Tijan Sila: «Radio Sarajevo», 2023, 176 S., Hanser Berlin

Wie «in der Trommel einer Waschmaschine im Schleudergang» fühlte sich der Beschuss und die Bombardierung Sarajevos für den damals zehnjährigen Tijan Sila an. Heute ist Tijan Sila Ingeborg-Bachmann-Preisträger und hat ein Buch über seine Erinnerungen im Bosnienkrieg geschrieben – in einer Sprache, die einen schlicht umhaut. In Silas Buch blickt man mit den Augen eines angehenden Teenagers auf Gewalt und Tod, lernt nebenbei lokale Flüche, Namen für Plattenbauten und Hintergründiges über ex-jugoslawische Lebensentwürfe. Sila springt in der Zeit, nimmt einen auch mit in die Jahre nach dem Krieg und zeigt, was dieser für lebenslange Folgen in seiner Familie hinterlassen hat. 1994 konnte Tijan Sila mit seiner Familie nach Deutschland flüchten. Die Belagerung Sarajevos durch bosnisch-serbische und serbische Truppen während des Bosnienkriegs dauerte insgesamt 1425 Tage, über 10’000 Menschen wurden getötet.

Zlata Filipović: «Zlatas Diary. A Childs Life in Sarajevo», 1995, 192 S., Puffin Books.

Ein halbes Jahr vor Kriegsbeginn begann Zlata Filipović (11), Tagebuch zu schreiben. Im November 1991 hörte sie übers Radio vom Krieg in Kroatien, im Frühjahr 1992 nahm sie an Friedensdemonstrationen in Sarajevo teil, am 5. April hörte sie die ersten Schüsse. «Ich versuche, mich zu konzentrieren, damit ich meine Hausaufgaben machen kann, aber es geht einfach nicht.» Zlata Filipović dokumentiert einen Alltag, der sich nun darauf konzentriert, genügend Essen, Wasser und Feuerholz zu beschaffen. Auch wenn die meisten Tagebucheinträge kurz sind, sie geben einen unerträglich genauen Einblick in das Leben eines Kindes und einer Familie während der Belagerung Sarajevos. 1993 können die Filipovićs nach Paris flüchten, noch im selben Jahr druckt ein französischer Verlag die erste Auflage des Tagebuchs.

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