Während am letzten Wochenende in Zürich das grösste Volksfest der Schweiz stattfindet, versammeln sich die Menschen auf dem Landsgemeindeplatz in Zug aus einem ganz anderen Anlass. Sie begrüssen sich auf bosnisch. Aus Eimern, die am Boden stehen, nehmen sie sich weisse Rosen. Viele tragen weisse T-Shirts. Auf der Vorderseite steht: «8372. Srebrenica. Never Forget. Marš Mira Zug».
«Marš Mira» bedeutet auf bosnisch Friedensmarsch. In Bosnien findet dieser seit 2005 jedes Jahr statt. Rund 100 Kilometer laufen Teilnehmende aus der ganzen Welt jene Strecke rückwärts, auf der die Menschen während des Bosnienkrieges in den 90er-Jahren dem Völkermord in Srebrenica in Richtung Tuzla zu entkommen versuchten.
Schlimmstes Verbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg
Am 11. Juli 1995 fielen bosnisch-serbische Truppen unter Führung von General Ratko Mladić (81) in der Stadt Srebrenica ein. In den darauffolgenden Tagen ermordeten sie über 8000 Musliminnen und Muslime, die meisten von ihnen Männer und Jungen. Das Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien hat dieses Verbrechen als Völkermord eingestuft.
Einige jener, die überlebt haben, wohnen heute in der Schweiz. Und laufen nun los in Zug, zusammen mit Kriegsüberlebenden aus anderen Teilen Bosniens, mit Freunden und Verwandten. Es wird keine lange Strecke entlang des Seebeckens, aber für viele eine wichtige und symbolträchtige.
«Ich war vier Jahre alt, als wir flüchten mussten», erzählt Mihneta Alić, ursprünglich aus dem bosnischen Kalesija. Mitglieder ihrer Familie seien in Gefangenenlagern gefoltert worden und bis heute traumatisiert. «Heute ist die Schweiz meine Heimat und wir sind in Sicherheit. Aber diese Geschichten sind ein Teil von uns. Es ist wichtig, dass die Leute auch hier gemeinsam gedenken können.»
Viele Familien haben Erinnerungen an den Krieg
Weiter vorne im Umzug ist Suvada Masić mit ihren vier Kindern unterwegs. «Ich habe das zum Glück nicht miterlebt», sagt einer der Söhne im Jugendalter, «aber fast alle bosnischen Familien haben im Krieg Angehörige verloren.»
Suvada Masić stammt aus der Nähe von Prijedor. Auch dort wurden schwerste Kriegsverbrechen an der nicht-serbischen Bevölkerung verübt. Sie kam bereits vor dem Krieg in die Schweiz. Ihr Bruder wurde 1994 getötet. Wie in Srebrenica werden auch in Prijedor Jahr für Jahr jene beerdigt, deren Überreste man nach und nach hat finden und identifizieren können. Vom Genozid in Srebrenica fehlt bis heute die Spur von mehreren Hundert Personen.
«Ich spreche mit meinen Kindern bewusst über das, was damals passiert ist, um zu verhindern, dass es wieder passiert. Mein Vater hat mit uns nie über seine Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg geredet», so Masić.
Beten für den Frieden
Der Umzug biegt ab, etwas weg vom See, hin zu einem Platz. Die Teilnehmenden stellen sich in einen grossen Kreis um eine weisse Blume aus Stoff, die ein Mann auf dem Boden ausgerollt hat. Es ist jene Blume, die Menschen weltweit als Symbol für Srebrenica tragen, meist als kleinen gehäkelten Anstecker. Elf Blüten zählt sie, an das Datum des 11. Juli 1995 erinnernd. Weiss steht für die Unschuld der Opfer, der grüne Knopf in der Mitte für die Hoffnung.
«Dass sich Srebrenica nie mehr wiederholen möge», «Da se Srebrenica nikada više ne ponoviti.», ist der Satz, den man in den Ansprachen auf dem Platz am häufigsten hört.
Auf bosnisch und deutsch wenden sich Vertreterinnen und Vertreter der islamischen Gemeinschaft an die Anwesenden. 28 Jahre seien seit dem Völkermord vergangen, für viele bleibe der Juli bis heute ein besonders schwerer Monat. Und auch die aktuellen Ereignisse in der Ukraine würden bei vielen böse Erinnerungen wecken. «Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, den Frieden zu fördern und eine bessere Zukunft für die kommenden Generationen zu schaffen.»
Wichtiges Zeichen für Überlebende
Gemeinsam wird gebetet, zwei Imame wenden sich mit Bitten an Gott, ein dritter singt ein religiöses Lied, ein weiteres Lied wird über Lautsprecher abgespielt. Die Zeilen beider fragen, wo die Liebsten geblieben sind. Immer wieder streichen sich Menschen Tränen aus dem Gesicht. Ihre Rosen legen sie in die Mitte des Kreises auf die Blüten der weissen Blume. Am Ende lassen die Kinder weisse Luftballone in den Himmel steigen.
Auch Emina M. * schaut diesen hinterher. Sie hat Srebrenica überlebt, als sie noch ein Kind war. «Für mich war es der erste Friedensmarsch in der Schweiz und ein spezieller – meine dreijährige Tochter war dabei. Bereits vor einigen Monaten hat sie gefragt, wo mein Vater sei. Am Samstag sagte ich ihr: Wir sind hier, um dem Papi vom Mami zu gedenken. Wenn du denn Ballon steigen lässt, geht er zu ihm.»
Der «Marš Mira» in Zug fand dieses Jahr zum ersten Mal in dieser Form statt. Weitere Friedensmärsche gab es in Neuenburg, Bellinzona TI und Oberentfelden AG.
Heute, am 11. Juli, dem international als Gedenktag der Opfer des Genozids von Srebrenica, werden sich Menschen am Abend in Genf versammeln, um an die Toten zu erinnern. Mitorganisiert hat diese Veranstaltung Sedina Delić-Tanović. Auch sie hat den Völkermord überlebt und erzählt ihre Geschichte heute vor Schulklassen. «Srebrenica ist eine Lektion für uns alle.»
*Name bekannt
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