Schuld sind die Optimisten!
Warum der Januar der schlimmste Monat aller Monate ist

Nie treffen Erwartung und Realität so aufeinander wie im Januar. Es ist die Hochsaison aller Beflissenen, die sich dauernd optimieren. Wegen ihnen nervt der Januar gewaltig!
Publiziert: 13.01.2024 um 18:07 Uhr
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Aktualisiert: 13.01.2024 um 18:41 Uhr
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Der Januar ist das Allerletzte, findet Blick-Journalist Benno Tuchschmid.
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Benno Tuchschmid
Benno TuchschmidCo-Ressortleiter Gesellschaft

Der Januar ist das Letzte. Um ganz genau zu sein: Das Allerletzte ist der frühe Januar. Die ersten Tage, Wochen nach den Festtagen. Falls das zu negativ klingt: Das Schlimmste am schlimmsten Monat aller Monate ist heute bereits überstanden. Es wird jetzt besser, denn schon bald ist nicht mehr Januar. Und dann kommen die Menschen wieder zur Besinnung. Falls das nicht genug Optimismus ist, dann rate ich, mit Lesen aufzuhören. Dann gehören Sie wohl zu jenen Menschen, die den Januar so schlimm machen. Zu den Beflissenen. Jenen, die dauernd an sich arbeiten, als wären sie ein Renovationsobjekt, die alles immer als Prozess oder Chance sehen. Zu den Januar-Menschen. 

Es ist doch so: Im ersten Monat des Jahres verwandeln sich viele von uns in noch radikalere Individualisten, die sich noch mehr nur noch für sich selbst interessieren. Natürlich: Die Hyperindividualisierung der Gesellschaft ist eine Tatsache, die nicht zu ändern scheint und von Soziologen schon mannigfach beschrieben wurde. «Mindfulness» heisst das Schlagwort der Stunde. Will heissen: Wir müssen alle achtsam mit uns selbst umgehen. Und uns dabei ja nicht durch die Welt ablenken lassen. Und wieso das Ganze? Um am Ende noch besser leisten zu können. 

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Ab 1998 begann dann die Seuche der positiven Psychologie, um sich zu greifen
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Die Wellness-Industrie gaukelt den Menschen schon seit den Sechzigerjahren vor, ihr individuelles Wohlbefinden sei alles, was zähle. Ab 1998 begann dann die Seuche der Positiven Psychologie, um sich zu greifen. Der US-amerikanische Psychologe Martin Seligman (81) machte den Begriff weltweit bekannt. Diese Strömung grenzt sich von der konventionellen Psychologie dadurch ab, dass nicht nach Defiziten geforscht wird, sondern nach den Gründen für Glück, Hoffnung und Optimismus. Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit begleitet die Positive Psychologie ebenso lange. 

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Zu sich selbst schauen ist kein Verbrechen. Nur zu sich selbst zu schauen ist einfach sehr egoistisch
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Klar: Zu sich selbst zu schauen, ist kein Verbrechen. Nur zu sich selbst zu schauen, ist einfach sehr egoistisch, aber ebenfalls nicht strafbar. Aber leider ist die Selbstpflege heute gepaart mit einem messianischen Drang, sich allen mitzuteilen. Die Welt ist voller Propheten ihrer selbst: Schaut zu, wie ich mir Sorge trage! Werdet selig an meiner strengen Güte mir selbst gegenüber!

Ein Beispiel? Mir tut gerade der Rumpf weh. Vorne unten, dort wo der Bauchansatz Jahr für Jahr wächst. Und auch auf der Seite. Schmerzen tut also die Region des Körpers, die offenbar sehr wichtig ist, um Stabilität zu halten und Rückenbeschwerden zu vermeiden. Absolut zentral, dass man da in sich investiert. Dazu haben mir viele Ratgeberartikel, Facebook-Werbung und Google Ads geraten.

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Macht was ihr wollt, aber behaltet es auch Mal für Euch!
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Am Montag habe ich darum einem körperlich äusserst flexiblen und gut aussehenden Mann mit öligem Oberkörper in einem Youtube-Channel mit dem Namen Saturno Movement dabei zugesehen, wie er Übungen macht, die den «Core» stählen. Hat gut ausgesehen bei ihm. Habs auch versucht. Hat sich schlecht angefühlt und wohl noch schlechter ausgesehen bei mir – und jetzt tut alles weh. Interessiert Sie das? Nein. Nervt es sogar, dass ich das hierhin schreibe? Verständlich, genau so geht es mir mit vielen meiner Mitmenschen im Januar. Macht, was ihr wollt, aber behaltet es auch mal für euch!

Instagram basiert darauf, sich mitzuteilen. Darum bin ich dort nicht abonniert. Aber das Mitteilungsbedürfnis ist längst in die reale Welt vorgedrungen. Der eine hört auf zu trinken. Weil Dry-January. Also trockener, alkoholfreier Januar. Das Vorhaben geht einher mit einer Mitteilung an die Aussenwelt: «Apéro? Ich trinke eben im Moment nicht, weisch.» Ist schon klar: Trinken ist schlecht. Laut der «NZZ am Sonntag» stirbt man ab einem Glas täglich fast sicher irgendwann daran. Haben wir begriffen. Aber dann trinkt einfach nicht und lasst mich anstossen!

Einer der Hauptgründe für den grässlichen Januar sind die Neujahrsvorsätze. Die sind bei uns in der Schweiz besonders beliebt. Eine vom Onlinehändler Galaxus in Auftrag gegebene Studie hat gerade zutage geführt, dass 59,1 Prozent der Schweizer Neujahrsvorsätze fassen. Das ist europäischer Spitzenwert. Am beliebtesten ist der Bereich Ernährung. Leider nimmt sich niemand vor, 2024 mal ausschliesslich gut zu essen. Oder endlich am St.-Martins-Fest im Jura mit anderen Menschen eine ganze Sau zu verspeisen. Es ist eher so wie bei der Nachbarin meiner Kollegin, die beim Schwatz mitteilt, sie gehe zum ersten Mal alleine ohne ihr Baby weg – auf eine Saftkur ins Allgäu, mit ihrer Freundin.

Saft! Im Allgäu! 

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Vom November erwartet niemand etwas. Im Januar aber, da muss das Glück zu einem finden!
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Ich bin weiss Gott nicht der Einzige, der den Januar nicht mag. Es gibt zwar Menschen, die sagen, der November sei schlimmer. Aber das ist Habakuk. Denn dem Januar geht der Dezember voran, wo zumindest am Monatsende alles etwas langsamer dreht, alle ein wenig weniger auf sich selbst fokussiert sind. Im US-amerikanischen Magazin «The Atlantic» erschien vor kurzem ein Essay, in dem der non-binäre Autor Isle McElroy den Januar als Schleudertrauma bezeichnet, weil in dem Monat Erwartung und Realität ineinandercrashen. Vom November erwartet niemand etwas. Im Januar aber, da muss das Glück zu einem finden! 

Überall im Netz verkündet Werbung, dass 2024 die Chance auf ein besseres Ich bietet (zum Beispiel in Form eines Coachings in den Bereichen Gesundheit, Mindfulness, Wellbeing, Fitness, Achtsamkeit). Wer die Chance nicht packt, ist selbst schuld. 

Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz (62) schrieb in einem Essay für «Die Welt» dazu: «Dank der Positiven Psychologie galt Glück schon bald nicht mehr als vage Vorstellung, utopisches Ziel oder unerreichbarer persönlicher Luxus. Es wurde vielmehr zu einer allgemeinen Zielsetzung, zu einem messbaren Konzept, das es erlaubte, die nötigen psychologischen Voraussetzungen für ein gesundes, erfolgreiches und optimal funktionierendes Individuum zu definieren.»

Dabei bleibt die Welt dieselbe wie 2023. All diese Mitmenschen, die «auf ein wunderbares 2024!» prosten, Promis, die auf ihren Portalen schreiben, «2024» werde ein tolles Jahr … Ach was soll denn jetzt plötzlich anders sein? Hat die Arbeit 2023 genervt, tut sie das ziemlich sicher auch im neuen Jahr noch (evtl. noch mehr, weil die Nervensägen motiviert aus den Ferien kommen). Die Beziehung hört auch nicht plötzlich auf zu harzen. Und die Kriege gehen auch weiter. Wieso dann so tun, als müsse man sich speziell freuen?

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ich bin immer noch wütend auf den Januar. Und auf mich, der auf die Versprechen des ersten Monats des Jahres reinfiel
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Schleudertrauma umschreibt das Januar-Gefühl ganz gut. Ein anderes treffendes Gefühl wäre ausrutschen auf einer algigen Stufe, mit dem Hinterkopf aufprallen und dann halb bewusstlos in 6 Grad kaltes Seewasser schlittern. Ist einem Freund passiert, als wir am 1. Januar Winterbaden wollten. Auch so eine Scheissidee aus dem Internet, wo Menschen ganz entrückt in Seen springen, jene, die es ganz ernst nehmen, sogar nach der Wim-Hof-Methode, die darauf basiert, dass kaltes Wasser durch Hyperventilieren weniger kalt wirken soll.

Wunderbare Endorphin-Ausschüttung löse Winterbaden aus und macht den Body zudem ready gegen alles Unheil. Sehr mindful. Die realen Konsequenzen bei meinem Kumpel waren eine schwere Hirnerschütterung und 24-Stunden-Spital. Nicht so gut für den Mind. Geht ihm jetzt wieder gut, dem Freund. Aber ich bin immer noch wütend auf den Januar. Und auf mich, der auf die Versprechen des ersten Monats des Jahres reinfiel. Der Rumpf tut immer noch weh.

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