Herr Rauchfleisch, Einsamkeit war weltweit ein Thema während der Pandemie. Für Sie gibt es einen weiteren globalen Einsamkeits-Treiber: den Klimawandel. Bitte erklären Sie.
Udo Rauchfleisch: Die widersprüchlichen Informationen zum Klima verunsichern, und wir erleben ein lähmendes Gefühl der Hilflosigkeit angesichts der erschreckenden Folgen des Klimawandels. Dieses Ohnmachtsgefühl ist zentral in Bezug auf Einsamkeit. Es kann dazu führen, dass wir uns zurückziehen.
Einige Menschen machen das Gegenteil: Sie betätigen sich aktivistisch.
Sich in eine Gemeinschaft zu begeben, ist eine der besten Methoden, Einsamkeit zu begegnen. Doch Klimaaktivistinnen und -aktivisten erkennen, dass sie kämpfen und kämpfen – und trotzdem nicht viel ändern können. Das kann zu einer Art Burn-out und letztlich auch zu einer Situation der Einsamkeit führen.
Sie behandeln als Psychotherapeut immer wieder Menschen mit Einsamkeitsgefühlen. Gibt es in deren Geschichten verbindende Elemente?
Nein, es gibt keinen roten Faden. Einzig vielleicht, dass Krankheit in die Isolation führen kann. Das ist schrecklich.
Warum passiert das?
Menschen, die unter einer psychischen oder körperlichen Erkrankung leiden, tendieren irgendwann dazu, sich zurückzuziehen. Vielleicht, weil das Umfeld das Klagen nicht mehr hören mag. Oder weil sie zu hören bekommen, sie müssten nur die vorhandenen Angebote nutzen, dann würde alles gut. Oder sie schämen sich ihrer psychischen Erkrankung.
Udo Rauchfleisch (81) ist emeritierter Professor für Klinische Psychologie der Universität Basel. Er studierte und promovierte in Deutschland. Ab 1970 war er fast 30 Jahre lang Leitender Psychologe der Psychiatrischen Universitätspoliklinik Basel. Der Psychoanalytiker und Psychotherapeut ist weiterhin in eigener Praxis tätig, macht Supervisionen und ehrenamtliche Arbeit und ist Autor von Sachbüchern und Krimis. Er ist Vater von drei erwachsenen Kindern, mehrfacher Grossvater und lebt mit seinem Mann in Basel.
Udo Rauchfleisch (81) ist emeritierter Professor für Klinische Psychologie der Universität Basel. Er studierte und promovierte in Deutschland. Ab 1970 war er fast 30 Jahre lang Leitender Psychologe der Psychiatrischen Universitätspoliklinik Basel. Der Psychoanalytiker und Psychotherapeut ist weiterhin in eigener Praxis tätig, macht Supervisionen und ehrenamtliche Arbeit und ist Autor von Sachbüchern und Krimis. Er ist Vater von drei erwachsenen Kindern, mehrfacher Grossvater und lebt mit seinem Mann in Basel.
Einsamkeit und Schamgefühle treten häufig gemeinsam auf. Warum eigentlich?
Einsamkeit ist sehr negativ konnotiert in unserer Gesellschaft. Betroffene schämen sich, weil ihnen vermittelt wird, sie seien selbst schuld, wenn sie die vielen Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe nicht nutzten.
Unsere Gesellschaft ist so offen wie noch nie. Warum ist die Einsamkeit trotzdem so gross?
Die Gesellschaft ist zunehmend anonymer und weniger solidarisch, die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter. Deshalb ist Einsamkeit eine unserer grossen Herausforderungen. Wir leben in einer Zeit grosser Einsamkeit.
England hat ein Ministerium gegen Einsamkeit gebildet.
Das ist eine extreme Form der Reaktion. Aber das Bewusstsein ist da, dass wir etwas tun müssen. Deutschland errichtet Lehrstühle zur Erforschung der Einsamkeit. Jemand hat gesagt, die körperlichen Folgen von Einsamkeit seien so gravierend wie Übergewicht, Rauchen und Alkoholüberkonsum kombiniert. Ich weiss nicht, ob es tatsächlich so massiv ist. Aber man weiss heute schon, dass die somatischen Reaktionen heftig sind.
Krankheit kann nicht nur einsam machen, sondern …
Einsamkeit macht auch krank. Es ist eine Wechselwirkung.
Philosophie und Kunst sehen Einsamkeit als Voraussetzung für Selbsterkenntnis und Quelle der Kreativität. Gibt es über die nicht selbst gewählte Einsamkeit auch Positives zu sagen?
Verknappt gesagt, fühlt sich ein Mensch einsam, wenn sein Bedürfnis nach sozialer Bindung nicht erfüllt ist. Positiv könnte sein, dass Einsamkeit einen zwingen kann, über die Bücher zu gehen. Sich zu fragen, was einem wichtig ist im Leben. Sich klar zu werden, wie viele Kontakte man braucht, ob ein veränderter Blick auf die bestehenden Bindungen möglich ist.
In Ihrem Buch beschreiben Sie einen alleinstehenden Patienten von Ihnen, der – in aller Kürze – sich nach der Pensionierung einsam fühlt, alkohol-, tabletten- und pornosüchtig wird, sich sozial komplett zurückzieht und sich dann nicht mal mehr aufraffen kann, das Haus zu verlassen, um Brot oder Milch zu kaufen. Er verwahrlost.
Wenn Einsamkeit chronisch wird, ist das leider eine der möglichen Folgen. Diese Menschen leiden wahnsinnig.
Jüngere Menschen fühlen sich zunehmend einsam. Dabei gibt es mit den sozialen Medien mehr Möglichkeiten denn je, Kontakte zu knüpfen.
Manche Jugendliche vernetzen sich tatsächlich exzessiv online. Oft sind das aber nur oberflächliche Kontakte, keine wirklich nahestehenden Personen. Hinzu kommen Belastungsfaktoren wie ein Abschied von der Schule, vom Kreis enger Freundschaften.
Die Jungen und die Hochbetagten haben die höchsten Einsamkeitswerte.
Das sind die beiden Pole, ja. Dazwischen ist die Zahl von einsamen Menschen relativ konstant.
Queere Personen erleben, dass sie von der Mehrheitsgesellschaft nicht als die anerkannt und akzeptiert werden, die sie sind – was oft die Entstehung von Einsamkeit zur Folge haben kann, wie Sie in Ihrem Buch schreiben. Was bewirkt eine non-binäre Identifikationsfigur wie Nemo diesbezüglich?
Eine positive Haltung in der Gesellschaft trägt dazu bei, dass sich Menschen mit queeren Identitäten weniger einsam fühlen. Aber es gibt ein Problem, wenn Menschen sichtbar werden, die einer Minderheit angehören.
Welches?
Sichtbar werden bedeutet nicht nur Akzeptanz fördern. Wenn Minderheiten Rechte einfordern, kommt auch massiver Widerstand. Dann werden sich diese Menschen noch stärker gewahr, dass sie nicht die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben wie der Rest der Gesellschaft. Und ausgeschlossen sein, nicht erwünscht sein, ist einer der Faktoren bei Einsamkeit.
Ist ein Coming-out ein Schritt aus der Einsamkeit?
Die Zeit grösster Einsamkeit ist die vor dem Coming-out. Die Phase, in der Menschen sich mit Fragen beschäftigen wie: Wer bin ich? Wie bin ich? Wie weit weiche ich ab von der Gesellschaft? Nach dem Coming-out ist tatsächlich eine Community da, ein Bezugskreis von Gleichgesinnten – wobei das auch nicht überhöht werden sollte.
Wie erlebten Sie Ihr Coming-out?
Das geschah schrittweise. In Bezug auf die Einsamkeit löste sich für mich viel, als ich mit meiner Frau darüber reden konnte. Den Begriff Ex-Frau mag ich übrigens nicht; wir haben nach wie vor engen Kontakt. Wir entschieden, mit den Kindern erst darüber zu sprechen, wenn sie älter sind. In einem nächsten Schritt sprach ich im engsten Freundeskreis darüber. Und die Öffentlichkeit war im Bild, als ich Homosexualität zu einem meiner Forschungsschwerpunkte machte, das war in den 1990er-Jahren – als auch die Kinder mit Reaktionen umgehen konnten.
Sie sind mit über 80 noch berufstätig. Für viele bedeutet die Pensionierung einen Schritt in die Einsamkeit.
Vor allem für Männer, die sich ihren Selbstwert über den Beruf holen. Ich bin überzeugt, dass schrittweise Pensionierungen möglich sein sollten. Während der Berufstätigkeit haben viele den Eindruck, sie hätten etliche Kontakte. Die Leute aus dem Arbeitsumfeld verliert man aber meist schnell, wenn man nicht mehr dabei ist. Und diejenigen von der eigenen Generation sterben nach und nach.
Wie macht man es richtig?
Ein Umfeld neben der Arbeit aufbauen – und zwar nicht erst nach der Pensionierung. Und: Generationen durchmischen.
Wie gelingt das?
Über Kurse oder Vereine, zum Beispiel. Ich war Mitglied im Burgenverein beider Basel, da waren wir bunt durchmischt von Studierenden bis zu Hochbetagten.
Einsamkeit ist ein Gefühl, keine Diagnose. Sollte es eine sein?
Nein, das wäre gefährlich.
Warum?
Damit wäre man auf der individuellen Ebene und rasch wieder bei der Schuldzuweisung. Einsamkeit ist eine enge Verquickung von individuellen und sozialen Faktoren. An den gesellschaftlichen Hintergründen von Einsamkeit müssen wir was ändern.
Sie schreiben nicht nur Sachbücher, sondern sind auch Krimiautor: In den letzten sieben Jahren haben Sie neun Krimis veröffentlicht. Was treibt Sie an?
Es macht mir Spass – und ist ganz anders, als wenn ich ein Sachbuch verfasse, wo ich ein Konzept erstelle, recherchiere, schreibe.
Inwiefern?
Das Setting ist immer im queeren Milieu in Basel, zudem packe ich immer auch soziale Themen hinein. Beim Schreiben nimmt die Geschichte unerwartet Wendungen, manchmal ist am Schluss jemand anderes Täter oder Täterin, als ich zu Beginn meinte. Die Geschichte schreibt sich selbst.
«Einsamkeit. Die Herausforderung unserer Zeit», Patmos.
«Einsamkeit. Die Herausforderung unserer Zeit», Patmos.