Allein die Aussagen in diesem Film berühren. Lola (25), lange schwarze Haare, sagt: «Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal mit Männern schlafen muss, die alt genug sind, um mein Vater zu sein.» Bella (57), die mit Perücke auf einem Bett sitzt, sagt: «Die Männer haben so eine Gier nach Sex. Diese Gier ist so grauslig.» Michelle (48), im Satin-Négligé, sagt mit eintöniger Stimme: «Der Sex tut oft sehr weh. Kneifen, beissen und saugen – alles ist darunter. Bei ihrer Frau zu Hause können sie das ja nicht machen.»
Prostitution steht im Zentrum einer Debatte, die auch in der Schweiz heiss diskutiert wird. Im Fokus: die Frage, ob man diese mehr regulieren soll, den Sexkauf ganz verbieten. In diese mischt sich nun leise die Österreicherin Carola Mair (58) ein. Sie hat die Geschichten von Zwang, Armut und Ausbeutung im Sexgewerbe in einen Dokumentarfilm gegossen. Und mit «Precious – Liebenswert», der ab 23. November bei uns in den Kinos läuft, ein aussergewöhnliches Zeugnis geschaffen. Mair ermöglicht den Zuschauenden einen Einblick in das Denken, Fühlen und Arbeiten von Prostituierten. Das gibt es selten. Und darum geht es ihr, wie sie sagt: «Ich möchte den Prostituierten mit dem Film Sichtbarkeit verschaffen.»
Hinter jeder Geschichte tut sich ein Abgrund auf
Lola, Michelle und Bella – die drei Frauen tragen die Handlung. Ihre Biografie könnte unterschiedlicher nicht sein. Doch der Grund, der sie in die Prostitution treibt, ist der gleiche: eine Not.
Lola kommt als Teenager von Nigeria nach Europa. Eine Nachbarin ihrer Grossmutter verkauft sie an die nigerianische Mafia. Ein Voodoo-Priester setzt sie mit einem Ritual unter Druck, impft ihr ein: Wenn du nicht tust, was man dir sagt, stirbt deine Familie. Sie kommt als Asylsuchende nach Österreich, wo sie später in einem Bordell arbeitet.
Michelles Abhängigkeit von ihrem Puff-Job beginnt mit der Scheidung von ihrem alkoholkranken Mann. Die Österreicherin flieht mit ihren drei Kindern ins Frauenhaus. Der existenzielle Druck nimmt zu. Michelles einziger Ausweg ist die Prostitution. Sie arbeitet in einem Bordell, als Selbständige und damit ganz ohne Zuhälter.
Bei Bella, ebenfalls Österreicherin, steht ein Loverboy am Anfang. Sie verliebt sich in einen Mann, der sie nach einer Weile anschaffen schickt. Dabei bleibt sie jahrzehntelang, auch wegen des Heroins. Sie braucht das Geld, um ihre Abhängigkeit zu finanzieren.
Prostitution und die Debatte darüber
Die Filmemacherin Carola Mair hat insgesamt drei Jahre recherchiert. Hat mit Menschenrechtsaktivistinnen, Menschenhandelsfachleuten, Freiern, Bordellbetreibern und einem Trauma-Therapeuten gesprochen, sie alle kommen zu Wort. Etwas hat sie überrascht: «Sobald eine Frau in die Prostitution einsteigt, verändert sich ihr Charakter innert kurzer Zeit.» Was das für Langzeitprostituierte bedeutet, veranschaulicht eine Szene eindrücklich.
Bella sagt: «Ich habe das total gut gekonnt: alles in mir abdrehen. Wie ein Schalter. Damit machst du alles tot. Nur ist es so, dass du den Schalter irgendwann nicht mehr zurück umlegen kannst. Sonst hätte ich das mit den Männern und der Gewalt nicht gepackt.» Sie brauchte Jahre, um sich und ihren Körper wieder zu spüren. Therapie half ihr dabei. Ähnlich geht es Michelle, die sich nicht mehr vorstellen kann, sich zu verlieben. «Ich bin kalt geworden.»
Der Ausstieg ist schwierig
Die Frauen sprechen offen und ungeschönt über sich. Wohl auch, weil sie geschützt sind. Ihre Gesichter bleiben verborgen. Filmemacherin Mair zeigt Silhouetten, Rückenansichten oder Beine. Hauptsache anonymisiert. Der Grund dafür ist unsere Gesellschaft, sagt sie. «Prostituierte sind stigmatisiert.»
Zwei der drei Frauen haben nun einen neuen Weg eingeschlagen. Und das war schwierig. Bella brauchte wegen ihrer Sucht zehn Jahre, bis sie den Ausstieg endgültig schaffte. Heute ist sie Sterbebegleiterin. Lola kann sich als 19-Jährige mithilfe einer Ordensfrau aus den Fängen der Mafia befreien. Heute ist sie ein in Österreich anerkanntes Menschenhandelsopfer. Und Michelle denkt über eine Ausbildung in der Alterspflege nach. Zurück hält sie eine Abhängigkeit. Sie braucht Geld für ihre Kinder.
Wo steht Carola Mair nun in der Debatte über ein Sexkaufverbot? Sie distanziert sich davon und sagt: «Darum geht es mir nicht.» Der Film solle aufklären. Junge Frauen. Aber auch Politik und Polizei. Diese sollen gemeinsam intensiver nach Lösungen suchen, wie man sexuelle Ausbeutung reduzieren könne. Ein Schritt in diese Richtung ist bereits getan. «Precious – Liebenswert» wurde im Oktober im Rahmen der Gender Equality Week im Europaparlament gezeigt.
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