Rammsteinsänger Till Lindemann (61) soll ein ausgeklügeltes Rekrutierungssystem für Groupies betrieben haben, ihm wurde sexueller Missbrauch vorgeworfen – der Fall «Row Zero» (Reihe Null) erschütterte im vergangenen Jahr die Musikindustrie. Jetzt hat das Journalistenduo Lena Kampf und Daniel Drepper ein Buch veröffentlicht. Sie haben mit über 200 Menschen aus der Branche gesprochen. Lena Kampf sagt: «Unsere Recherchen haben bald gezeigt, dass das Castingsystem von Till Lindemann fast wie am Fliessband funktioniert, aber bei weitem kein Einzelfall ist.»
Fast alle Frauen, die schon länger in der Branche tätig seien und mit den Journalistinnen über ihre Erfahrungen sprachen, mussten sich entscheiden: «Entweder verlasse ich die Musikindustrie, oder ich lege mir Strategien zurecht, wie ich mit übergriffigen Männern zurechtkomme», heisst es an einer Stelle im Buch. Fall an Fall geben Kampf und Deppler die Geschichten der Frauen wieder, oft anonymisiert, aber fast immer durch Zeugenaussagen gestützt. Es sind Geschichten von Vergewaltigungen, Beziehungen mit Minderjährigen und Gewaltausbrüchen.
«Fickbänder» und «Pussy-Passes»
Gerade in Zeiten, als Rock 'n' Roll gross wurde, war sexueller Missbrauch in der Szene weit verbreitet und wurde oft verharmlost. Ein Beispiel ist die ehemalige Rockmusikerin Jackie Fuchs (64). Im Juli 2015 erhob sie Vorwürfe gegen ihren früheren Musikmanager Kim Fowley (1939–2015), nur wenige Monate nach dessen Tod. Vor 50 Jahren soll der bekannte Produzent die Mitglieder seiner Band, von der auch Fuchs Teil war, nach einem Auftritt zu einer Party in seinem Hotel eingeladen haben. Dort vergewaltigt er die damals 16-jährige, unter Drogen gesetzte Jackie Fuchs. Dabei soll er eine regelrechte Performance daraus gemacht haben, während Partygäste und die restlichen Bandmitglieder zusehen mussten.
Dass solche Strukturen auch heute noch aktuell sind, zeigt nicht nur Till Lindemann, sondern auch zahlreiche Rapper: Mit sogenannten «Fickbändern», «Pussy-Passes» oder «goldenen Bändchen», wie Deutschrapper Bushido sie in seiner Biografie nennt, werden junge Frauen in den Backstagebereich eingeladen. Dass dort keine Gesetze gelten, schildert Rapper Apache 207 ganz öffentlich und ungehemmt in einem seiner Songs: «Telefone werden eingesammelt nach meinem Konzert, denn ich steh nicht so auf ‹No risk, no fun›. Was im Backstage so passiert, bleibt auch hier im Backstage, denn manchmal wird es einfach nur zu brutal.»
Das Erschreckende: Für die meisten Stars hat ihr Verhalten kaum Folgen, teilweise sorgt es sogar für Publicity. So auch bei XXXTentatcion. 2017 verbringt der US-amerikanische Rapper mehrere Monate in Untersuchungshaft. Er soll an einem bewaffneten Raubüberfall beteiligt gewesen sein und seine damalige, schwangere Freundin geschlagen, getreten, gewürgt und eingesperrt haben. Die Ermittlungen gegen den Star gehen mit zunehmender Prominenz einher. Noch während er in Haft sitzt, bieten ihm Scouts von grossen Plattenfirmen Verträge an, nach seiner Freilassung tritt er an einem der grössten Hip-Hop-Festivals auf.
Toleranz für Täter
Dass die Skandale in der Musikbranche erst jetzt langsam für Empörung sorgen, habe mit Rollenbildern zu tun, so Lena Kampf: «In der Musikwelt sind sexuelle Grenzüberschreitungen viel akzeptierter, da sie bis zu einem gewissen Grad der Erwartung an einen Rockstar entsprechen», sagt Kampf. «Der Mythos ‹Sex, Drugs and Rock’n’Roll› hält bis heute an. Als betroffene Person stellt man sich dann die Frage: Der verkörpert das schon auf der Bühne, darf mich sein Verhalten überhaupt irritieren?»
Hinzu kommt, dass die Künstler eine unglaubliche Macht haben. Anhänger finden sich nämlich nicht nur im Publikum: «Viele, die in der Branche arbeiten, sind selbst Fans», so Kampf. Das bringt ein ganz anderes Problem mit sich: «Der Ruhm strahlt auf viele ab, die eng mit den Stars zusammenarbeiten. Sie profitieren oft auch von den Privilegien, die der Ruhm mit sich bringt», sagt die Autorin. Es entsteht eine Branche, in der mutmassliche Täter geschützt und sogar unterstützt werden.
Hoffnung für die Musikindustrie
Auch für Rammstein, insbesondere für Till Lindemann, hat der Skandal kaum Folgen, das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt. Ein Bewusstsein in der Branche ist aber dennoch geschaffen, nicht zuletzt auch dank der Recherchen von Lena Kampf und Daniel Drepper. «Wir haben einen Stein ins Wasser geworfen. Wir hoffen, dass die Diskussionen jetzt eine grössere Öffentlichkeit erreichen», sagt Lena Kampf.