Investigativer Journalismus
«Wenn deine Mutter dir sagt, dass sie dich liebt, dann überprüfe es»

Ihre Recherche veränderte die Welt: Die «New York Times»-Reporterinnen Jodi Kantor (49) und Megan Twohey (47) überführten den Hollywoodproduzenten Harvey Weinstein (72) – was die #MeToo-Bewegung auslöste. Ein Gespräch über Aktivismus und Journalismus.
Publiziert: 22.09.2024 um 18:34 Uhr
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Aktualisiert: 22.09.2024 um 18:52 Uhr

Auf einen Blick

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Peter HossliReporter & Leiter Journalistenschule

Blick: Jodi Kantor, was kann Megan Twohey besser als Sie?
Jodi Kantor: Eine ganze Menge. Als wir uns das erste Mal trafen, dachte ich, Megan und ich sind Reporterinnen, sonst haben wir nichts gemein. Dann wurde mir klar, dass wir zu 50 Prozent dieselbe Person sind und zu 50 Prozent völlig verschieden.

Und was haben Sie von Megan Twohey gelernt?
Kantor: Dass Journalismus manchmal Konfrontation braucht. Da war ich vorher eher zurückhaltend. Ich bin Journalistin geworden, weil mir Menschen am Herzen liegen. Den Schalter umzulegen und statt freundlich plötzlich konfrontativ zu sein, war für mich nicht einfach. Megan macht so etwas Spass – nein: Sie ist ein Genie darin! An ihrer Seite habe ich mich stark verbessert. Und ja, es ist toll, mit einer Frau zu arbeiten, die zur Schwester geworden ist.

Jodi Kantor stiess die Recherche zu Hollywood-Produzent Harvey Weinstein bei der «New York Times» an.
Foto: Stefan Bohrer

Megan Twohey, was kann Jodi Kantor besser als Sie?
Megan Twohey: Wir wollen beide die Wahrheit aufdecken und die Mächtigen zur Rechenschaft ziehen. Bevor wir uns trafen, sah ich mich selbst als ziemlich unerbittliche Rechercheurin. Aber Jodi ist möglicherweise sogar unerbittlicher als ich.

Hartnäckige Rechercheurinnen

Jodi Kantor, 49, wuchs in New York auf. Seit 2003 arbeitet sie als Reporterin für die «New York Times». 2008 begleitete sie den Präsidentschaftswahlkampf von Barack Obama. 2017 enthüllte sie den Harvey-Weinstein-Skandal.
Megan Twohey, 47, stammt aus Illinois im Mittleren Westen der USA. Sie war für diverse Zeitungen tätig, bevor sie 2016 zur «New York Times» stiess. Mit Kantor recherchierte sie die Weinstein-Story und das Sachbuch «She Said». 2022 wurde es von der deutschen Regisseurin Maria Schrader verfilmt.

Jodi Kantor, 49, wuchs in New York auf. Seit 2003 arbeitet sie als Reporterin für die «New York Times». 2008 begleitete sie den Präsidentschaftswahlkampf von Barack Obama. 2017 enthüllte sie den Harvey-Weinstein-Skandal.
Megan Twohey, 47, stammt aus Illinois im Mittleren Westen der USA. Sie war für diverse Zeitungen tätig, bevor sie 2016 zur «New York Times» stiess. Mit Kantor recherchierte sie die Weinstein-Story und das Sachbuch «She Said». 2022 wurde es von der deutschen Regisseurin Maria Schrader verfilmt.

Gemeinsam haben Sie 2017 die sexuellen Übergriffe des Filmmoguls Harvey Weinstein aufgedeckt. Übertraf Jodi Sie dabei in ihrer Unerbittlichkeit?
Twohey: Es gab einen Moment gegen Ende der Recherche, als wir erfuhren, dass der Reporter Ronan Farrow für den «New Yorker» an der gleichen Geschichte arbeitete und uns vielleicht abhängen würde…

…das ist die Angst eines jeden investigativen Journalisten.
Twohey: Wir mussten die Geschichte früher veröffentlichen als geplant. Ich war zufrieden mit dem, was wir hatten. Viele Frauen hatten uns ihre persönlichen Geschichten von Missbrauch erzählt – aber anonym.

Megan Twohey hatte schon viel Erfahrung als Investigativ-Journalistin, als sie bei der Weinstein-Recherche einstieg.
Foto: Stefan Bohrer

Sie hatten Zeuginnen, aber keine, die mit Namen dazu stand?
Twohey: Ja, und Jodi weigerte sich, die Geschichte so zu veröffentlichen. Sie war wütend, dass wir keine Frau hatten, die öffentlich dazu stehen würde. Jodi sagte: «Nein, ich bin nicht zufrieden, wir brauchen mehr.» Bis dahin hatten wir mit 105 Prozent gearbeitet, aber Jodi ging in der Endphase auf 150 Prozent. Zuletzt sagten sowohl Ashley Judd als auch Laura Madden bei uns aus. Das hat die Recherche richtig stark gemacht.
Kantor: Wir brauchen einander – damals und noch immer.

Weil die Geschichte bis heute nachklingt?
Kantor: Wir hatten es von Anfang an mit Dingen zu tun, die Angst machen, mit schrecklichen Vergehen in einer mächtigen Branche, mit Geheimnissen und Filmstars in Hollywood. Fünf Jahre lang wurden wir mit Tatsachen konfrontiert, von denen wir nie geträumt hätten – auch lange nachdem die Geschichte publik war. Wer will das schon alleine durchstehen?
Twohey: Recherchieren kann sehr einsam sein – und sehr emotional. Vor allem, wenn man wirklich Abscheuliches aufdeckt. Es ist von unschätzbarem Wert, diese Erfahrung mit jemandem zu teilen, über das Handwerk zu reden und die Emotionen abzufedern.
Kantor: Durch die Recherche sind wir zu Hüterinnen von etwas Besonderem geworden. Es geht um Fairness gegenüber Frauen. Und es geht um die Wahrheit – in einer Zeit, in der man das Gefühl hat, dass uns die Wahrheit entgleitet. Jetzt wollen wir die Bedeutung und das Erbe dieser Geschichte bewahren und die mutigen Frauen ehren, die Zeugnis abgelegt haben. Wir überlegen gemeinsam, wie wir das tun, wie in einer Beziehung, in der man sich vertraut. Wir dürfen in dieser Sache echt nichts vermasseln.

Warum arbeiten gerade investigative Journalisten oft zu zweit?
Kantor: Bei diesem Journalismus gibt es viele Geheimnisse, die ein Gewicht haben. Damit gilt es, verantwortungsvoll umzugehen. Da braucht man einen Partner, mit dem man absolut ehrlich sein kann.

Die beiden Investigativ-Journalistinnen betonen die Vorteile einer Kollaboration.
Foto: Stefan Bohrer

Vor 30 Jahren war ich als Filmjournalist tätig. Schon damals schienen viele in der Branche zu wissen, dass Harvey Weinstein ein problematisches Verhältnis zu Frauen hat. Warum haben wir alle so lange weggeschaut?
Kantor: Das konnten wir in unserer Recherche aufzeigen: Harvey Weinstein verfügte über ein ganzes Arsenal an Mitteln, um Frauen zum Schweigen zu bringen. Jedes Mal, wenn es zu einem Vergehen kam, verteilte ein mächtiger Anwalt als Abfindung Geld an die Frauen.

Dennoch: Man hätte früher hinsehen können.
Kantor: Ich verstehe den moralischen Kern Ihrer Frage. Und es stimmt: Manche zögerten, sich damit auseinanderzusetzen, vor allem Leute aus der Unterhaltungsbranche. Sie hatten Gründe wegzuschauen. Aber diese Sache ist grösser als die eines einzelnen Produzenten. Es ging um ein System, eine ganze Reihe von Vorfällen, die verschwiegen wurden.

Nachdem Sie Weinstein überführt hatten, begann die #MeToo-Bewegung. Weshalb hatte Ihre Recherche eine so grosse Wirkung?
Twohey: Es sind mehrere Faktoren. Ein Jahr vor unserer Enthüllung hatten die USA Donald Trump zum Präsidenten gewählt – nach mehreren Anschuldigungen und Berichten über sexuelles Fehlverhalten gegen ihn. Ich war an einigen der Recherchen beteiligt und hatte mit betroffenen Frauen gesprochen.

Trotzdem wurde er gewählt.
Twohey: Ja, aber die Wut und die Frustration blieben, zumindest hier in den USA. Das konnte man an den Frauenmärschen und den rosa Mützen sehen. Obwohl Trump gewählt wurde, rückte das sexuelle Fehlverhalten mächtiger Männer ins öffentliche Bewusstsein – wie schon lange nicht mehr.

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«Unsere Geschichte war eine der ersten, in der die Frauen berühmter waren als die beschuldigten Männer.»
Megan Twohey
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Trump allein kann nicht der Grund für #MeToo gewesen sein.
Twohey: Es gab immer wieder Geschichten über sexuelles Fehlverhalten. Das Muster war immer dasselbe: Eher unbekannte Frauen erhoben Vorwürfe gegen prominente Männer. Oft blieben die Opfer anonym. Unsere Geschichte war eine der ersten, in der die Frauen berühmter waren als die beschuldigten Männer: Ashley Judd, Gwyneth Paltrow, Angelina Jolie – jeder kennt ihre Filme. Obwohl diese Frauen genauso viel Angst hatten wie alle anderen vor ihnen, haben sie die Machtverhältnisse verändert.

Gibt es noch eine dritte Komponente?
Twohey: Es gab andere Journalisten, die davorstanden, die Harvey-Weinstein-Geschichte aufzudecken. Wir waren die ersten, die erfolgreich waren. Und zwar, weil uns das mit altmodischem Handwerk gelang.

Der gute alte Schuhsohlenjournalismus zeigt immer noch Wirkung?
Twohey: Wir haben uns an journalistische Grundregeln gehalten. Und das in einer Zeit, in der oft von Fake News und Desinformation die Rede ist und man spürt, wie die Fakten vor unseren Augen zerbröseln.

Bei der Weinstein-Recherche konnte niemand die Fakten anzweifeln.
Twohey: Das war entscheidend. Die Recherche hallt nach, weil der Journalismus hieb- und stichfest war. Und weil wir mutige Quellen hatten – Menschen, die bereit waren, öffentlich die Wahrheit zu sagen.

Wie brachten Sie die Opfer des sexuellen Missbrauchs dazu, mit vollem Namen zu ihren Anschuldigungen zu stehen?
Twohey: Der Chefredaktor der «New York Times» machte uns klar, dass wir keine anonymen Quellen und keine anonymen Anschuldigungen verwenden durften. Die Anklägerinnen mussten mit ihrem Namen hinter den Vorwürfen stehen. Darauf haben wir uns geeinigt, und das war unser Anspruch.
Kantor: Die Frauen sagten aus Überzeugung aus. Laura Madden, Ashley Judd und die anderen sorgten sich um künftige Opfer. Ihr Motiv war aufrichtig.

Menschen sprechen aus vielen Motiven mit den Medien. Dazu gehören Rache oder der Versuch, jemanden zu denunzieren.
Kantor: Und da muss man auf der Hut sein. Diejenigen, die den schwierigen journalistischen Prozess mit uns durchliefen, taten es aus integren Absichten. Aber jede Frau hatte zuvor mit sich selbst geklärt, ob sie das machen wollte. Da waren wir nicht beteiligt.

Sie wissen nicht genau, warum die Frauen mit Ihnen sprachen?
Kantor: Wir wissen: Sie handelten aus Sorge. Und wir konnten ihnen dafür eine sichere Plattform bieten. Bevor wir die Frauen um ihre Aussage baten, konnten wir ihnen zeigen, was wir schon alles hatten: eine 25 Jahre zurückreichende Chronik von Anschuldigungen, juristische und finanzielle Spuren, Personalakten, ein Memo, das belegte, dass die Probleme in Weinsteins Firma bekannt waren und als gravierend eingestuft wurden.

Megan Twohey (l.) und Jodi Kantor hatten bei ihrer monatelangen Recherche die volle Unterstützung ihres Arbeitgebers, der «New York Times».
Foto: Stefan Bohrer

Weil Sie viel wussten, fühlten sich die Frauen bei Ihnen sicher? Weinstein setzte doch seine Macht häufig gegen Journalisten ein.
Twohey: Wir trafen Frauen, die mit anderen Journalisten gesprochen hatten, weil sie hofften, dass ihre Geschichte erzählt wird, und dann erlebten, wie sie versandet. Viele fragten: «Wozu sollte ich mit euch reden? Selbst wenn ich es tue, wird Harvey Weinstein in die ‹New York Times› marschieren, den Chefredaktor oder den Verleger anrufen und dafür sorgen, dass die Geschichte verschwindet. Er ist mächtiger und hat mehr Einfluss auf ihr Medium als sie selbst. Warum sollten wir ihnen glauben? Warum sollten wir uns darauf einlassen? Warum sollten wir Vertrauen haben?»

Wie haben Sie diese geballte Ladung an Skepsis entkräftet?
Twohey: Wir sagten allen, dass wir nicht wissen, was geschehen wird. Aber wir konnten allen versichern, dass wir mit der gesamten «New York Times» im Rücken antreten würden. Alle standen hinter uns: der Verleger, der Chefredaktor, der Firmenanwalt. Zuletzt hatten wir fast Mitleid mit einem Hollywoodproduzenten, der meinte, uns einschüchtern zu können.

Sie haben Weinstein persönlich konfrontiert. Wie reagiert ein so furchteinflössender Unmensch auf freundliche Frauen, die ihn nicht nur in die Enge treiben, sondern auch stoppen können?
Twohey: Er war ziemlich aufbrausend. Wenn man sich ein Klavier vorstellt, auf dessen Tasten alle möglichen Reaktionen auf Anschuldigungen gespeichert sind, dann drückte er unkontrolliert auf jede Taste. Als wir die erste Geschichte veröffentlichten, verhielt er sich sehr unprofessionell, beinahe pathetisch. Er sagte: «Für mich ist es vorbei. Ich bin tot.» Was er in diesem Moment begriffen hatte: Es war wirklich vorbei.
Kantor: Wir stellten sicher, dass Weinstein über alles informiert war, was wir veröffentlichen wollten. Und dass er genügend Zeit hatte zu reagieren. Bei so einer Geschichte darf es keine Überraschungen geben. Wer beschuldigt wird, muss die Möglichkeit haben, zu reagieren und sich zu verteidigen.

Fairer Journalismus bedeutet, Beschuldigte mit den Vorwürfen zu konfrontieren. Das ist aufreibend. Wie war es mit Weinstein?
Kantor: Wie eine Achterbahnfahrt. Er versuchte uns bei jedem Schritt auszubremsen. Trotzdem war es wichtig, ihn mit allem zu konfrontieren. Auch das machte die Recherche wasserdicht. Als Journalistin muss man sich an die Regeln halten, vor allem wenn man schwere Vorwürfe gegen jemanden erhebt.

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«Als Journalistin kann man nur eines machen: mehr Journalismus.»
Megan Twohey
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Auf Ihre Berichterstattung folgte #MeToo. Das hat die Welt verändert. Empfanden Sie Genugtuung? Glücksgefühle?
Twohey: Jahre später versuchen Jodi und ich immer noch, das alles zu begreifen. Natürlich reagierten wir emotional, es fühlte sich an wie ein wunderbarer Sieg, nicht nur für uns, sondern auch für unsere Quellen. Aber sehr bald senkten wir wieder die Köpfe und recherchierten weiter. Als Journalistin kann man nur eines machen: mehr Journalismus.

Fast 100 Frauen erstatteten Anzeige gegen Harvey Weinstein. Einer der Prozesse muss wieder aufgerollt werden – aber er sitzt als Verurteilter im Gefängnis. Weniger eindeutig ist die #MeToo- Bewegung.
Twohey: Da gibt es Grautöne. Fest steht: Die alten Regeln funktionieren nicht mehr, aber die Gesellschaft ist noch uneins, was die neuen sind. Jodi und ich sind Akteure in diesem Drama. Unsere Arbeit hat dazu beigetragen, Veränderungen anzustossen. Aber wir arbeiten unabhängig von der Bewegung.

Der deutsche Journalist Hanns Joachim Friedrichs forderte einst, ein guter Journalist mache sich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten. «MeToo» gilt als gute Sache. Wie bleiben Sie Journalistinnen, ohne in den Aktivismus zu verfallen?
Kantor: Wir sind für die Wahrheit. Manche Leute denken, es sei lästig, nie einen politischen Aufkleber zu tragen, nie auf eine Demo gehen zu dürfen. Aber ich finde das befreiend. Uns geht es nur um – die Wahrheit.

Journalisten wird oft vorgeworfen, aktivistisch zu sein. Rund um die #MeToo-Bewegung gab es jede Menge Aktivismus.
Twohey: Unser Journalismus, die #MeToo-Bewegung und der Aktivismus haben über die Jahre einen Tanz miteinander aufgeführt. Aber es gibt grosse Unterschiede. Ein Slogan von #MeToo lautet «Believe women», glaubt den Frauen. Jodi und ich interessieren uns für deren Sicht. Wir haben einen grossen Teil unserer journalistischen Arbeit damit verbracht, ihre Aussagen und Geschichten zu beleuchten. Aber die Vorstellung, dass wir pauschal alles glauben, was Frauen sagen, trifft nicht zu.

Jodi Kantor (l.) und Megan Twohey empfinden es als befreiend, ihre privaten Ansichten für sich zu behalten und sich nie aktivistisch zu betätigen.
Foto: Stefan Bohrer

«Glaubt den Frauen» ist kein journalistisches Prinzip?
Twohey: Mein erster Job war bei einer Zeitung in Milwaukee, Wisconsin. Mein Chefredaktor hatte ein Schild über seinem Schreibtisch hängen, auf dem stand: «Wenn deine Mutter dir sagt, dass sie dich liebt, dann überprüfe es.» Das entspricht unserem journalistischen Selbstverständnis. Wir würden niemals eine einzige Aussage allein für bare Münze nehmen und veröffentlichen, egal, von wem sie kommt. Wenn jemand einen schwerwiegenden Vorwurf erhebt, führen wir eine knallharte Prüfung durch, bevor wir ihn veröffentlichen. So arbeiten investigative Journalisten, Aktivisten nicht. Diesen Unterschied muss man verstehen.

Der #MeToo-Journalismus steht in der Kritik. Manche wurden öffentlich zu Unrecht beschuldigt und später freigesprochen.
Kantor: Schwere Anschuldigungen können das Leben eines Menschen ruinieren. Nach der Weinstein-Affäre hörten wir alle möglichen Hinweise und Gerüchte, manchmal sogar glaubwürdige Geschichten. Es ist aber etwas anderes zu sagen: «Ich glaube, das ist die Wahrheit.» Oder: «Ich kann es beweisen und veröffentlichen.» Die Hürde vor einer Veröffentlichung ist sehr hoch. Und das ist gut so, denn Geschichten wie diese haben Konsequenzen.
Twohey: Gwyneth Paltrow hat uns berichtet, wie sie als junges Starlet von Weinstein belästigt und bedroht wurde und dass sie es ihrem damaligen Freund Brad Pitt erzählte. Wir sagten zu ihr: «Okay, wir müssen mit Brad Pitt sprechen, damit er bestätigen kann, dass du mit ihm gesprochen hast.»

Im Fall Weinstein ging es um männliche Dominanz. Wie wichtig war es, dass zwei Frauen ihn aufgedeckt haben?
Kantor: Ich weiss nicht, ob wir diese Frage beantworten können. Was zutrifft: Wir haben über unser Umfeld berichtet. Die Opfer waren ehrgeizige Frauen um die 40 – wie wir selbst. Wir fingen an zu arbeiten, wurden aber unterstützt.
Twohey: Nicht nur von Redaktorinnen, sondern auch von vielen männlichen Redaktoren.

Den Frauen, über die Sie schrieben, half niemand.
Kantor: Sie machten albtraumhafte Erfahrungen. Sie hatten die gleichen Träume wie wir. Sie wollten auch ein Stück vom Kuchen, sich entwickeln und aufsteigen. Stattdessen wurden sie schikaniert und gemobbt.

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«Zwischen einem Reporter und einem Thema kann eine Kluft entstehen. Hier war die Kluft schmerzhaft.»
Jodi Kantor
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Die Karrieren von Ihnen beiden sind erfolgreich verlaufen.
Kantor: Zwischen einem Reporter und einem Thema kann eine Kluft entstehen. Hier war die Kluft schmerzhaft. Schon vor der Weinstein-Enthüllung verliefen unsere Karrieren grossartig. Und wir profitierten weiter von dieser Geschichte, während viele der Frauen, die wir interviewt haben, um ihre verpassten Chancen trauern. Eine sagte zu mir: «Ich kann diese Jahre nie zurückholen. Ich werde nie wissen, wie gut ich wirklich geworden wäre, wenn man mich nicht missbraucht hätte.»
Twohey: Jodi und ich werden oft darauf angesprochen, dass wir Journalistinnen sind. Das ist verständlich. Aber wir können nicht für alle Frauen im Journalismus sprechen. Wir sind zwei Reporterinnen, die zufällig Frauen sind und fantastische Erfahrungen in diesem Beruf gemacht haben. Im Printjournalismus interessiert es sowieso niemanden, ob man eine Frau ist oder ein Mann. Auch nicht, wie man aussieht.

Sie hätten genauso gut Filmkritikerin oder Modejournalistin werden können. Warum haben Sie sich für das schwierigste Feld entschieden – den investigativen Journalismus?
Kantor: Um Informationen an die Öffentlichkeit zu bringen. Am Ende jedes Kalenderjahrs ziehe ich Bilanz und frage mich: Was ist jetzt öffentlich, das nicht öffentlich geworden wäre, wenn ich es nicht aufgedeckt und aufgeschrieben hätte? Probleme kann man nur lösen, wenn man sie sieht. Fakten, die öffentlich werden, bereichern die Debatte.
Twohey: Alle Formen des Journalismus sind wertvoll. Ich lese gern gut geschriebene Reportagen und ausführliche Porträts, ich sehe häufig spannende Dokumentarfilme und denke mir: Oh mein Gott, ist das eine tolle Arbeit – ich glaube nicht, dass ich das könnte!

Die beiden Journalistinnen, die mit ihrer Recherche die #MeToo-Bewegung ausgelöst hatten, weilten Mitte September 2024 auf Einladung von Ringier in Zürich.
Foto: Stefan Bohrer

Und trotzdem sind Sie Investigativjournalistin geworden.
Twohey: Man muss einen Job finden, in dem man seine Stärken, Fähigkeiten und Leidenschaften einbringen kann. Investigativer Journalismus setzt Neugier, Entschlossenheit und eine starke Abneigung gegen Ungerechtigkeit voraus. Vor allem, wenn Mächtige versuchen, sich ihren Weg durch die Welt zu bahnen. Jodi und ich fühlen uns dazu berufen, Ungerechtigkeit zu bekämpfen und dafür zu sorgen, dass die Wahrheit siegt und die Mächtigen zur Rechenschaft gezogen werden. Es ist schwer zu erklären, wieso wir sind, wie wir sind, aber wir schätzen uns glücklich, den schönsten Beruf der Welt auszuüben.

Wir leben in einer Zeit der Desinformation. Würden Sie Ihren Kindern heute noch raten, Journalist zu werden?
Kantor: Diese Frage ist mir zu privat.

Dann allgemein: Ist es immer noch eine gute Zeit, Reporter zu sein?
Kantor: Es ist unsere Aufgabe zu zeigen, wie gut Journalismus sein kann. Klar gibt es Probleme. Ich war heute Morgen bei einer Lesung zum ersten Jahrestag der Inhaftierung des «Wall Street Journal»-Reporters Evan Gershkovich. Wir sehen, was in der Welt geschieht. Aber wir wollen Mut machen und daran erinnern, was unser Ideal ist, dass wir gesunde journalistische Institutionen haben können, die solide Geschäftsmodelle haben und die Demokratie unterstützen. Und die unseren Blick auf die Welt verändern. Menschen sollen mit ihren Enthüllungen sicher an die Öffentlichkeit gelangen können.

Dennoch: Der Ruf unserer Branche ist nicht gut.
Kantor: Journalisten werden überzeichnet dargestellt, entweder als Helden oder als Bösewichte. Journalisten sollten einfach engagierte Bürger sein, keine Staatsdiener, sondern Menschen, die sich der Wahrheit verschreiben, nicht einer Ideologie. Meine Sorge ist, ob es noch Geschäftsmodelle gibt, die diese Arbeit unterstützen. Viele junge Menschen wollen in den Journalismus. Sie sind klug, hungrig, inspiriert. Aber gibt es jenseits der sicheren Institutionen von «New York Times», «Wall Street Journal» und einigen anderen noch ein Geschäftsmodell, das den Journalismus hervorbringen kann, den die Welt braucht?

Der Pilot Chesley Sullenberger landete 2009 ein Flugzeug auf dem Hudson River. Alle 155 Menschen an Bord überlebten. Aber er flog nie wieder. Kann Erfolg im Journalismus ein Fluch sein?
Kantor: Wir haben bewiesen, dass das bei uns nicht der Fall ist. Wir sind mit Leib und Seele Journalistinnen. Die Reaktionen auf die Weinstein-Geschichte haben uns geschmeichelt, geehrt, überwältigt. Unser Team achtet darauf, dass wir ehrlich bleiben und nicht abheben. Wir produzieren weiter. Es war nie unser Ziel, dass Hollywood einen Film über uns dreht. Unser Ziel ist, sinnvollen Journalismus zu machen.
Twohey: Journalismus ist ein Geschäft. Als Reporterin hat man immer ein bisschen Zeit, sich über die Geschichte von gestern zu freuen. Aber am Ende des Tages bist du nur so gut wie deine nächste Story – egal, wie erfolgreich die letzte war. Es kommt nur darauf an, was man als Nächstes bringt. Glücklicherweise brennen wir beide dafür.
Kantor: Welcher Journalist kann die Welt betrachten, ohne mehr Fakten ans Tageslicht bringen zu wollen? Wir versuchen nicht, diese Geschichte zu übertreffen. Sie ist einzigartig. Sie hat uns alles abverlangt. Wir haben die Ressourcen, guten Journalismus zu machen. Man vertraut uns. Das verpflichtet.

Das Gespräch erschien zuerst in «Interview by Ringier». 

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