Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm
«Wir haben nicht zu wenig Gymeler, sondern zu viele, die wieder aussteigen»

Eltern und Politik mischeln mit, wenn es um die Berufswahl und den Bildungsweg von jungen Menschen geht. Es frage aber kaum jemand danach, schreibt Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm, ob eigentlich die «Geeignetsten» die jeweiligen Wege einschlagen.
Publiziert: 24.03.2024 um 09:26 Uhr
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Aktualisiert: 24.03.2024 um 10:00 Uhr
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Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm schreibt, dass der Fachkräftemangel mit anderen Mitteln als einer höheren Gymi-Quote bekämpft werden sollte.
Foto: Valentina Verdesca
Margrit Stamm

Allein im Kanton Zürich haben 9000 Kinder und Jugendliche im März an den Gymi-Prüfungen teilgenommen, aber nur etwa die Hälfte wird es schaffen. Diese Woche haben sie den Bescheid bekommen, ob es für sie nach den Sommerferien an einem Gymnasium weitergeht.

Gerade für Eltern, deren Kind nicht dazugehört, die es aber unbedingt in dieser Kaderschmiede sehen möchten, ist das bitter. Sie wünschen sich verständlicherweise eine höhere Gymi-Aufnahmequote.

Gymi gegen Berufsbildung?

Dagegen gibt es immer wieder heftigen Widerstand. Man solle nicht noch mehr «kopflastige» Gymnasiastinnen und Gymnasiasten ausbilden, sondern mehr praktisch Begabte, heisst es. Das Ziel müsse die Stärkung der Berufsbildung sein.

Diese Diskussion ist zwar wichtig, doch zu oft werden Gymnasien und Berufsbildung gegeneinander ausgespielt. Zudem bleibt die Diskussion oft auf einer behauptenden Ebene stecken. Das betrifft manche Aussage zur Erhöhung der Gymiquote als Mittel gegen den Fachkräftemangel und den hohen Bedarf an Fachkräften aus dem Ausland. Oder zur Überzeugung, mit finanziellen Anreizen könne das MINT-Problem gelöst werden, also den Zustand, dass zu wenige junge Menschen Studienfächer aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik wählen.

Viele brechen das Gymi ab

Überhaupt nicht in den Blick genommen wird die Frage, wer denn die «Geeignetsten» fürs Gymnasium respektive für eine Berufslehre wären. Erstens haben wir nicht zu wenig Gymeler, sondern zu viele, die wieder aussteigen. Nur etwa die Hälfte derjenigen, die ins Langzeitgymnasium übertreten, erwerben einen universitären Bachelor-Abschluss. 14 Prozent schliessen das Gymi gar nicht ab, und 25 Prozent studieren nie an einer Universität. 10 Prozent verlassen sie vor dem Abschluss, 15 Prozent landen nachher in einem Beruf, für den es gar keinen Universitätsabschluss braucht.

Dies dürfte auch damit zu tun haben, dass sich der Arbeitsmarkt verändert hat. Heute sind Fachkräfte mit einer höheren Berufsbildung genauso nachgefragt wie solche von Universitäten. Dies ist das Ergebnis einer Studie der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung.

Zweitens ist es bislang nicht gelungen, junge Menschen in die Studienrichtungen zu kanalisieren, die wirklich vom Fachkräftemangel betroffen sind. Dies gilt insbesondere für Frauen, die in diesem Bereich trotz vieler Förderprojekte unterrepräsentiert sind.

Studienfächer mit schlechten Perspektiven

Mehr denn je werden heute Sozial- und Geisteswissenschaften gewählt. Eine Folge davon ist laut Hochschulabsolventenbefragung, dass durchschnittlich 48 Prozent ein Jahr nach Studienabschluss keine feste Anstellung haben. Bei den Fachhochschulen sind es nur 14 Prozent. Vor allem aber fehlt es an Fachleuten mit Berufslehre, mit oder ohne anschliessenden Weiterbildungen und Spezialisierungen auf der Tertiärstufe: Pflegefachpersonal, Elektromonteure, Software-Entwickler, Schreiner, Köche, Gärtner, Polymechaniker.

Lediglich mit einer Erhöhung der Gymnasialquote lassen sich anstehende Probleme kaum lösen. Denn es gibt einen dritten Punkt, der kaum diskutiert wird. Wie sorgt unsere Bildungspolitik dafür, dass nicht lediglich mehr das Gymnasium besuchen, sondern die «Begabten»? Und dass Gleiches auch für die Berufslehre gilt?

Es gibt zu denken, dass die Berufsbildung vor allem von Jugendlichen aus nicht akademischen Elternhäusern in Anspruch genommen wird, während Gymnasien in erster Linie von solchen aus akademisch gebildeten Familien besucht werden. Das ist kein zukunftsträchtiger Zustand.

Persönliche Interessen vor Wünsche der Eltern

Der höchste Ausbildungsabschluss ist nicht per se der Beste. Persönliche Interessen und Fähigkeiten sollten den Ausschlag zur Berufswahl geben und nicht bildungspolitische Forderungen nach einer Erhöhung der Gymiquote oder die Wünsche der Eltern.

Dann würden mehr leistungsstarke Jugendliche aus gut situierten Familien eine Berufslehre absolvieren und mehr intellektuell begabte Kinder aus Arbeiter- und benachteiligten Migrantenfamilien das Gymnasium. Berufsbildung und Gymnasien würden so eine gleichwertige Rolle spielen.

Nein, mehr Gymnasiastinnen und Gymnasiasten sind nicht das Mass der Dinge. Es ist an der Zeit, diese Fixpunkte unserer Akademisierungsgesellschaft zu hinterfragen. Viele Indizien sprechen dafür, dass Soft Skills grundlegend für den Ausbildungs- und Berufserfolg sind. Dazu gehören Selbstbewusstsein, Hartnäckigkeit, Durchsetzungsfähigkeit, Frustrationstoleranz – also die Fähigkeit, mit Misserfolgen umgehen zu können. Sie sind das Rüstzeug, um dem Leben mit Widerstandsfähigkeit und Erfolgszuversicht zu begegnen – und zwar jenseits einer Erhöhung der Gymiquote.

Margrit Stamm (73) ist emeritierte Professorin für pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg. Ebenfalls ist sie Gründerin und Leiterin des Forschungsinstituts Swiss Education.  

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