Er war Flüchtling – jetzt ist er Orthopädist
«Ohne Gastfamilie hätte ich mich verloren»

Innerhalb weniger Jahre hat Arash Hosseini Deutsch gelernt, eine Lehre gemacht und eine Stelle gefunden – auch dank seiner Gasteltern.
Publiziert: 05.11.2023 um 10:52 Uhr
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Arash Hosseini war 17 Jahre alt, als er in der Schweiz ankam. Heute, acht Jahre später, arbeitet er als Orthopädist.
Foto: STEFAN BOHRER
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Camilla AlaborRedaktorin

Arash Hosseini (25) spricht nicht viel. Er packt lieber an. In einer Praxis in Baden AG formt er massgeschneiderte Prothesen, passt Fusseinlagen an, kümmert sich um Patienten. Hosseini arbeitet in einem Job, von dem viele nicht einmal wissen, dass es ihn gibt: Er ist Orthopädist. Seine Klienten sind Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. 

Für den Afghanen ist es ein Traumjob. «Die Patienten freuen sich, wenn sie sich dank einer Prothese besser bewegen können», erklärt er. «Das ist ein schönes Gefühl.» 

Gedankenblitz im Spital

Den Beruf entdeckte er, als er noch im Iran lebte. Sein Bruder verbrachte nach einem schweren Motorradunfall mehrere Monate im Spital. Hosseini, damals ein Teenager, war oft zu Besuch. Er sah, wie die Zimmergenossen seines Bruders dank der Prothesen erste Schritte machten. Wie sie strahlten. «Da wurde mir klar: Das will ich machen.»

Doch der Weg zum Orthopädisten war lang. Hosseini kam 2015 als 17-jähriger Flüchtling in die Schweiz. Ohne Eltern, ohne ein Wort Deutsch. Er schaffte es dank viel Fleiss – und der tatkräftigen Unterstützung seiner Gasteltern: Katja Koopmann (56) und Peter Lüthy (57). Sie haben ihm geholfen, viele Stolpersteine zu überwinden, sodass er heute anderen helfen kann.

Basel als Ausnahme

Denn Hosseini hatte Glück: Er lebte in Basel-Stadt – neben Freiburg und Schaffhausen einem der wenigen Deutschschweizer Kantone mit einem Gastfamilien-Programm. Im Zuge der Flüchtlingskrise von 2015 beschloss Basel, die Unterbringung von Flüchtlingen bei der lokalen Bevölkerung zu ermöglichen. Zuständig für die Vermittlung ist die gemeinnützige Organisation GGG Benevol.

Interessierte Flüchtlinge und Familien können sich seither bei der Organisation melden. Diese klärt zunächst die Erwartungen beider Seiten ab, wie Projektleiterin Mira Schwarz (31) sagt: Wie stellen sich Gastfamilie und Gast das Zusammenleben vor? Wer nutzt wann die Küche? Wer putzt das Badezimmer? 

Hilfe bei Problemen

Falls es passen könnte, kommt es zu einem persönlichen Treffen. Und, wenn beide Parteien mit an Bord sind, zu einem Mietvertrag. Dieser dauert neun Monate, mit Option auf Verlängerung. 

Entscheidend sei, dass auch während der Unterbringung die Betreuung durch die Organisation sichergestellt sei, sagt Schwarz: «So können wir helfen, wenn es zu Problemen kommt.» Oft passt es aber so gut, dass die Gastfamilie die Mietdauer verlängert. Arash Hosseini etwa wohnte fünf Jahre bei seinen Gasteltern. 

Unterkunft bei Gastfamilie ist günstiger

In Basel-Stadt ist man vom Programm überzeugt. «Die Erfahrungen sind durchwegs positiv», sagt Ruedi Illes, Leiter der städtischen Sozialhilfe. «Durch die alltägliche Kommunikation [mit der Gastfamilie] lernen die Geflüchteten die Sprache schneller.» Zudem bauten sie schneller ein soziales Beziehungsnetz auf, was die Integration fördere. 

Ob die Unterbringung in Gastfamilien den Kanton günstiger zu stehen kommt, kann Illes nicht abschliessend beurteilen. Denn: «Die Integrationserfolge hängen von sehr verschiedenen Faktoren ab.» Klar sei, dass die Unterbringungskosten im Vergleich zu Zentren oder Mietwohnungen tiefer ausfielen. 

Eine interne Wirkungsanalyse von GGG Benevol aus dem Jahr 2022 zieht ebenfalls ein positives Fazit: Das Programm sorge für bessere Sprachkenntnisse, was wiederum die Integration fördere und den Zugang zur Berufslehre erleichtere.

Von der Gesellschaft isoliert

Arash Hosseini hatte die ersten zwei Jahre in Basel in einer Kollektivunterkunft verbracht. «Dort ist man ständig unter sich», sagt er. «Es gibt wenig Austausch mit anderen Leuten.» Als er vom Gastfamilien-Programm erfuhr, sah der zurückhaltende junge Mann darin eine Chance. Denn als Afghane im Iran hatte er die Erfahrung gemacht: «Die Landessprache zu lernen, ist wichtig – aber ohne die Kultur zu verstehen, kann man sich nicht integrieren.»

Und so zog der 19-jährige Hosseini 2017 bei Katja Koopmann und Peter Lüthy ein. Das Zusammenleben mit Hosseini habe von Beginn weg gut funktioniert, erinnert sich Gastmutter Katja Koopmann. Auch wenn sie nach dem zweiten oder dritten Fest gemerkt hätten, dass Weihnachten nicht so sehr Arashs Ding sei. «Höflich, wie er ist, folgte er jeweils unserer Einladung. Aber richtig wohl fühlte er sich inmitten der ganzen Verwandtschaft nicht.» 

Arash Hosseini, der mit am Tisch sitzt, grinst und schaut zugleich etwas verlegen drein. «Weihnachten ist eine schöne Sache», beteuert er; bedacht darauf, niemandem auf die Füsse zu treten. Auch wenn er den Feiertag lieber mit Kollegen verbringe. 

Lange Abende vor dem Computer

Das Verhältnis zwischen der Gastfamilie und dem jungen Mann ist vertraut. Auch heute noch, da Arash in eine eigene Wohnung gezogen ist. Das mag an den vielen Abenden liegen, die der junge Mann und seine Gasteltern miteinander verbracht haben: zuerst für die Lehrstellensuche. Dann für die Bewerbungen. Und schliesslich während der Lehre selber. 

So klickte sich Katja Koopmann mit Arash Hosseini stundenlang durch Lehrstellenportale. Ihr Mann Peter Lüthy half bei den Bewerbungsschreiben – und, als die Lehrstelle einmal gefunden war, bei den Hausaufgaben. 

Knapp vor Abgabe

«Meist kam Arash abends um 20 Uhr mit einer Arbeit, die er am nächsten oder übernächsten Tag abgeben musste», erinnert sich Lüthy. Zu zweit hätten sie jeweils Stunden investiert: «Den Arbeiten fehlte eine Einleitung, eine Struktur.» Irgendwann habe Arash meistens gesagt: «Das ist gut so.» Er, Lüthy, habe ihm widersprochen. «Manchmal habe ich dann einen Absatz alleine umgeschrieben, sonst hätte das noch länger gedauert.» 

Heute lachen die drei, wenn sie sich daran erinnern. Und freuen sich darüber, wie Arash die anspruchsvolle vierjährige Lehre erfolgreich abschloss. Als einziger Ausländer. Inmitten einer Klasse von Schweizern. 

Lehre abgebrochen

Manche seiner Kollegen, die in der Kollektivunterkunft geblieben seien, hätten ihre Lehre dagegen abgebrochen, sagt Hosseini. Oder gar keine Lehrstelle gefunden. 

Denn selbst im Pionierkanton Basel-Stadt ist die Nachfrage nach Plätzen in Gastfamilien grösser als das Angebot. Die Warteliste sei lang, sagt Mira Schwarz von GGG Benevol. «Momentan beherbergen rund 15 Gastfamilien Flüchtlinge, die aus anderen Ländern als der Ukraine stammen.» 

Bern will keine Gastfamilien

Obwohl der Integrationseffekt offensichtlich ist: In der Deutschschweiz zeigen die wenigsten Kantone Interesse an einem Gastfamilien-Programm. So ist in den Kantonen Aargau und Luzern eine solche Unterbringung nur nach «individueller Prüfung» möglich. Der Kanton Bern schliesst ein solches Modell gar explizit aus. Der Kanton Zürich lässt eine entsprechende Anfrage unbeantwortet. 

Arash Hosseini ist froh, durfte er das «Heim» nach zwei Jahren verlassen. Die Gastfamilie habe ihm geholfen, sich hierzulande nicht «zwischen den Menschen zu verlieren», wie er es ausdrückt. «Ich wollte eine Lehre abschliessen. Diese Türe ist jetzt offen.» 

Rechnung weggeworfen

Denn, sagt Hosseini in fliessendem Deutsch: «Man braucht Unterstützung, um sich zurechtzufinden.» So wie bei der Serafe-Gebühr. Hosseini erhielt die Rechnung einmal, zweimal, schmiss sie beide Male weg. «Ich dachte: Ich habe ja weder ein Radio noch einen Fernseher.» Auf einmal flatterte eine weitere Rechnung ins Haus: 1000 Franken Busse. «Zum Glück hat Frau Koopmann der Firma erklärt, dass es sich um ein Missverständnis handelte.» Man fand dann eine Lösung. 

Sein nächstes Ziel hat sich Hosseini bereits gesetzt: Er möchte die Meisterprüfung zum Orthopädietechniker absolvieren. Allerdings findet die Ausbildung in Deutschland statt. Das ist ein Problem, denn: Arash Hosseini darf die Schweiz erst verlassen, wenn er eine Niederlassungsbewilligung erhält.

Bisher hat ihm der Kanton eine solche nicht ausgestellt.

Gelungene Integration hin oder her.

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