Epigenetikerin Isabelle Mansuy
Sind die Gene schuld, wenn gute Vorsätze scheitern?

Unser Lebensstil hat Folgen für unsere Nachkommen. Epigenetikerin Isabelle Mansuy erklärt, wie Traumata und Stress über Generationen vererbt werden können, was sie aus Versuchen mit Mäusen lernt und warum Herzpatienten auch psychologische Betreuung bräuchten.
Publiziert: 28.12.2024 um 12:28 Uhr
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Aktualisiert: 28.12.2024 um 12:29 Uhr
Isabelle Mansuy forscht als Professorin für Neuroepigenetik an der ETH in Zürich.
Foto: Philippe Rossier

Auf einen Blick

  • Lebensstil beeinflusst Epigenom
  • Traumata können über Generationen vererbt werden
  • Ziel der Tierversuche: Behandlungen für Menschen entwickeln
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.

Im neuen Jahr fassen viele gute Vorsätze – und scheitern. Kann man den Genen die Schuld daran geben?
Isabelle Mansuy: Leider nein. Aus biologischer Sicht ist unser Lebensstil entscheidend für unsere Gesundheit. Ich verstehe, dass es schwerfällt, gute Vorsätze wie gesunde Ernährung, ausreichenden Schlaf oder den Verzicht auf Alkohol und Tabak einzuhalten. Aber langfristig kann ein ungesunder Lebensstil gravierende Folgen haben: Zellen können geschädigt werden, oft irreversibel. Unsere Forschung zeigt, dass diese Auswirkungen sogar an die Nachkommen weitergegeben werden können.

Wie zeigt sich das?
In unseren Tierstudien beobachten wir bei den Nachkommen von Mäusen, die Stress ausgesetzt waren, deutliche Anzeichen dieser Belastung. Die Effekte betreffen also nicht nur die Eltern, sondern auch die Nachkommen. Jede Anstrengung, die man für einen gesunden Lebensstil auf sich nimmt, lohnt sich nicht nur für einen selbst, sondern auch für jene, die nach uns kommen. Das kann eine gute Motivation sein. 

Genetik und Kunst: Professorin Isabelle Mansuy vor einer Skulptur, in der die DNA mit Köpfen dargestellt wird.
Foto: Philippe Rossier

Also tragen wir die Folgen der Lebensweise unserer Eltern in uns?
In gewisser Weise ist das vielleicht so. Aber es ist wichtig, den Unterschied zwischen Genom und Epigenom zu verstehen. Das Genom ist wie die Hardware eines Computers – der DNA-Code, der festgelegt ist. Er besteht aus vier Basen und kann nur begrenzt repariert werden, wenn er beschädigt wird. So wie ein starker Sonnenbrand die Hautzellen unwiderruflich schädigen kann. Das Epigenom hingegen ist die Software, die steuert, wie der DNA-Code gelesen und genutzt wird. Es beeinflusst, wie Gene ein- oder ausgeschaltet werden. 

Und das können wir steuern?
Ein Stück weit. Das sind hochkomplexe Mechanismen. Tatsächlich kann das Epigenom durch Faktoren wie Ernährung, Stress, Bewegung oder Umweltgifte beeinflusst werden. Das bedeutet, wir haben eine gewisse Kontrolle: Unser Lebensstil kann das Epigenom positiv oder negativ formen. Wir können also das Beste daraus machen.

Das ist Epigenetik

Die Epigenetik ist ein Bindeglied zwischen Genetik und Umwelt. Während die Genetik die festen Baupläne in unserer DNA beschreibt, bestimmt die Epigenetik, wie diese Pläne gelesen und umgesetzt werden – vergleichbar mit Anweisungen, die auf den Bauplan geschrieben werden. Gene sind durch epigenetische Mechanismen wie chemische Markierungen an- oder ausgeschaltet, ohne die DNA-Sequenz zu verändern. Diese Steuerung ermöglicht es unserem Körper, flexibel auf Umwelteinflüsse wie Lebenserfahrungen, Ernährung oder Sport zu reagieren.

Isabelle Mansuy erforscht, wie solche epigenetischen Veränderungen durch traumatische Erfahrungen entstehen und sogar an nachfolgende Generationen weitergegeben werden können. Ihre Studien, etwa mit Mäusen, zeigen, dass Stress nicht nur Verhalten, sondern auch die Genregulation beeinflusst. Diese Veränderungen sind potenziell umkehrbar – durch gesunde Lebensweisen oder gezielte Interventionen.

Die Epigenetik ist ein Bindeglied zwischen Genetik und Umwelt. Während die Genetik die festen Baupläne in unserer DNA beschreibt, bestimmt die Epigenetik, wie diese Pläne gelesen und umgesetzt werden – vergleichbar mit Anweisungen, die auf den Bauplan geschrieben werden. Gene sind durch epigenetische Mechanismen wie chemische Markierungen an- oder ausgeschaltet, ohne die DNA-Sequenz zu verändern. Diese Steuerung ermöglicht es unserem Körper, flexibel auf Umwelteinflüsse wie Lebenserfahrungen, Ernährung oder Sport zu reagieren.

Isabelle Mansuy erforscht, wie solche epigenetischen Veränderungen durch traumatische Erfahrungen entstehen und sogar an nachfolgende Generationen weitergegeben werden können. Ihre Studien, etwa mit Mäusen, zeigen, dass Stress nicht nur Verhalten, sondern auch die Genregulation beeinflusst. Diese Veränderungen sind potenziell umkehrbar – durch gesunde Lebensweisen oder gezielte Interventionen.

Eine aktuelle ETH-Studie belegt, dass der Jojo-Effekt auf Epigenetik beruht?
Extreme Ernährungsumstellungen können Spuren im Epigenom hinterlassen, also wenn man ab- und wieder zunimmt. Laut dieser Studie speichern Fettzellen Erinnerungen an Übergewicht. Diese Informationen bleiben auch nach einer Diät bestehen, das macht es wahrscheinlicher, erneut zuzunehmen. Der Jojo-Effekt ist also ein Beispiel für die Dynamik des Epigenoms. Bei unserer Forschung fokussieren wir vor allem auf Traumata, die vererbt werden. 

Also angenommen, ein Mensch hat ein Kriegstrauma erlebt, kann es sein, dass sein Enkel deshalb Panikattacken hat?
Traumata können tatsächlich epigenetische Spuren hinterlassen, die über Generationen an die Nachkommen weitergegeben werden. Viele denken bei Trauma sofort an Kriegserfahrungen, aber es gibt auch alltägliche Formen: eine gewalttätige Umgebung oder Familie, Vernachlässigung, emotionale, verbale oder sexuelle Gewalt. Diese persönlichen Traumata können sogar schwerwiegender sein als kollektive, wie aus dem Krieg. Und auch sie können später Kinder und Enkelkinder betreffen.

Die Professorin in ihrem Büro auf dem Irchel-Gelände in Zürich.
Foto: Philippe Rossier

Kann man das wissenschaftlich nachweisen?
Ja, wir arbeiten mit genetisch identischen Mäusen. Einige waren in ihrem frühen Leben traumatischem Stress ausgesetzt, andere nicht. So können wir nachweisen, dass gestresste Tiere Symptome entwickeln und diese an ihre Nachkommen weitergeben – immer wieder, über mehrere Generationen. Das ist ein klarer Beweis. 

Aber Menschen sind keine Mäuse?
Beim Menschen ist es viel komplizierter, weil zahlreiche Faktoren wie Umwelt, Lebensstil und Genetik eine Rolle spielen. Wir untersuchen, was im Körper, im Gehirn und in den Keimzellen bei Stress geschieht. Auch wenn sich das nicht direkt übertragen lässt, haben wir Biomarker für traumatische Erfahrungen identifiziert. 

Pionierin der Epigenetik

Isabelle Mansuy (59) ist Neuroepigenetikerin an der Universität Zürich und der ETH. Sie erforscht, wie erworbene Eigenschaften und prägende Erfahrungen – etwa traumatische Kindheitserlebnisse – nicht nur das Leben der Betroffenen, sondern auch ihrer Nachkommen über Generationen beeinflussen. Mit Tiermodellen entschlüsselt sie, wie solche Erlebnisse epigenetisch vererbt werden. Mansuy zählt zu den Pionierinnen der Epigenetik. Sie ist Co-Autorin des Buchs: «Wir können unsere Gene steuern! Die Chancen der Epigenetik für ein gesundes und glückliches Leben», Piper Verlag, 2020.

Philippe Rossier

Isabelle Mansuy (59) ist Neuroepigenetikerin an der Universität Zürich und der ETH. Sie erforscht, wie erworbene Eigenschaften und prägende Erfahrungen – etwa traumatische Kindheitserlebnisse – nicht nur das Leben der Betroffenen, sondern auch ihrer Nachkommen über Generationen beeinflussen. Mit Tiermodellen entschlüsselt sie, wie solche Erlebnisse epigenetisch vererbt werden. Mansuy zählt zu den Pionierinnen der Epigenetik. Sie ist Co-Autorin des Buchs: «Wir können unsere Gene steuern! Die Chancen der Epigenetik für ein gesundes und glückliches Leben», Piper Verlag, 2020.

Was ist ein Biomarker?
Das ist ein messbarer Indikator im Blut, Speichel oder Urin für verschiedene medizinische Diagnosen. In unserem Fall kann er Auskunft über den psychischen und physiologischen Zustand einer Person geben. 

Inwieweit hilft Ihre Forschung traumatisierten Menschen?
Ziel unserer Forschung ist es, die Mechanismen von Traumata zu verstehen; bis zu diagnostischen und therapeutischen Massnahmen ist es ein weiter Weg. Psychische Erkrankungen wie Borderline, Psychosen und Depressionen gehen oft mit Schuldgefühlen einher. Das Wissen, dass emotionale Belastungen genauso wie eine genetische Eigenschaft – etwa blonde Haare – weitergegeben werden, kann Betroffenen helfen, sich besser zu fühlen.

Laut Epigenetik können emotionale Verletzungen weite Kreise ziehen und sich sogar auf Nachkommen auswirken.
Foto: Philippe Rossier

Wir befinden uns in unsicheren Zeiten, rundum gibt es Krieg. Kann ein vererbtes Trauma ein Grund dafür sein, dass wir aus der negativen Spirale von Gewalt und Konflikten nicht herauskommen?
Kriege richten enorme Schäden an – Menschen sterben, werden traumatisiert und hinterlassen tiefe Wunden. Diese Muster wiederholen sich immer wieder, und das kann tatsächlich mit einem über Generationen vererbten Traumata zusammenhängen. Das Epigenom, das die Erfahrungen unserer Vorfahren in unsere eigene Biologie einprägt, kann dazu beitragen, wie wir auf Konflikte und Gewalt reagieren. Ich glaube aber, das Problem liegt wahrscheinlich woanders.

Nämlich?
Krieg ist eine «männliche» Problematik. Oft sind Männer für Konflikte verantwortlich. 

Ist das nicht etwas einfach?
Aus biologischer Sicht sind Konflikte oft Teil unserer Überlebensstrategie. Das ist tief in der menschlichen Psyche und Evolution verankert. Wir erleben die Welt als Wettbewerb ums Überleben. Das lässt sich auch im Tierreich beobachten: Vor allem bei Säugetieren sind es meist die Männchen, die Kämpfe austragen, um Reviere zu verteidigen oder Partner zu gewinnen.

Beobachten Sie das auch bei Ihren Mäusen?
Ja. Wenn man zwei männliche Mäuse zusammen in einen Käfig sperrt, kommt es sofort zu einem Kampf, während die Weibchen kein solches Verhalten zeigen. Diese biologischen Muster haben sich im Laufe der Evolution erhalten und beeinflussen unsere heutigen Konflikte.

Zurück zu den guten Vorsätzen. Wenn man seinen Lebensstil verbessert, wie lange dauert es, bis sich das Epigenom zu verändern beginnt?
Das sind komplexe Prozesse. Jeder von uns hat Milliarden von Zellen, und jede hat ihr eigenes Epigenom. Veränderungen passieren unterschiedlich schnell, je nachdem, welche Zellen betroffen sind. Wenn Sie zum Beispiel einen Hamburger essen, reagieren die Zellen im Blut, in der Bauchspeicheldrüse oder in der Leber relativ schnell, da sie direkt von der Nahrung beeinflusst werden. Haut- oder Gehirnzellen werden langsamer betroffen sein. 

Ein Geschenk ihrer Studentinnen: Mansuy forscht mit Generationen von Mäusen.
Foto: Philippe Rossier

Und wenn ich joggen gehe?
Dabei verändert sich das Epigenom Ihrer Muskelzellen fast sofort. Regelmässiges Laufen hat auch Auswirkungen auf das Gehirn, aber diese zeigen sich erst nach einer gewissen Zeit. 

Können Sie aufgrund Ihrer Forschung auch Verbesserungen nachweisen?
Ja, unsere Studien haben gezeigt, dass Mäuse, die Stress ausgesetzt sind, oft Verhaltensprobleme und Herzkrankheiten haben, die sie auch vererben. Sie zeigen viel mehr Risikoverhalten und ihr Herz ist grösser und steifer und pumpt nicht gut. Sobald die Mäuse in eine entspannte Umgebung kommen, normalisieren sich Verhalten und Herzfunktion. Die Schäden sind also teilweise reversibel.

Kann man daraus auf Menschen schliessen?
Wenn jemand an Herzinsuffizienz oder anderen Herzproblemen leidet, wird er zum Kardiologen geschickt. Vielleicht wäre es gut, solche Patienten auch psychologisch zu betreuen.

Sie forschen seit 25 Jahren mit Generationen von Mäusen, wie ist Ihr Bezug zu den Tieren?
Wir arbeiten täglich mit den Mäusen und natürlich lernt man sie kennen. Wir belasten die Tiere nicht unnötig und gehen respektvoll mit ihnen um. 

Viele sehen Tierversuche kritisch.
Das ist verständlich. Aber wir können diese Resultate nicht mit künstlicher Intelligenz, Zellkulturen oder alternativen Modellen erreichen. Die Studien sind entscheidend für medizinische Fortschritte. Wir machen diese Arbeit mit dem Ziel, Behandlungen zu entwickeln, die Menschen helfen.

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