Drei Leben, drei Krisen
Diese Menschen sind gescheitert – das sind ihre Geschichten

Ein Topmanager verliert Job und Familie. Ein Start-up floppt. Und ein Unternehmer ruiniert seine Gesundheit. Drei Abstürze und eine Frage: Wie gehen wir mit Misserfolgen um?
Publiziert: 25.05.2024 um 17:33 Uhr
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Aktualisiert: 28.05.2024 um 10:53 Uhr
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Thomas Winter war ein Topmanager bei Microsoft Schweiz.
Foto: Philippe Rossier

Seine Kündigung erhält Thomas Winter (52) in einem Videocall. Am Tag zuvor war der Topmanager von Microsoft Schweiz noch mit neuen Projekten betraut worden. Dann sitzt Winter vor seinem Laptop, auf dem Bildschirm sieht er seine Chefin. Sie sagt: «Ich wünsche mir eine Veränderung.» Winter muss gehen.

Die Entlassung liegt inzwischen zwei Jahre zurück. Wenn Winter darüber spricht, sagt er mehrmals, dass sein Leben innert wenigen Monaten «implodiert» sei. Der Verlust seines Jobs war nur ein Teil davon. 

Heute steht Winter auf einer Bühne. Es ist Dienstagabend, im Zürcher Volkshaus sitzen 500 Personen, die meisten im Studierendenalter. Sie sind hier, um an der «Nacht des Versagens» teilzunehmen. Offiziell heisst der Anlass «FuckUp Nights». Der ETH Entrepreneur Club hat den Event organisiert, um ein Tabu zu brechen: das Sprechen über Misserfolge in der Öffentlichkeit. 

Alle scheitern im Leben

An diesem Abend treten drei Rednerinnen und Redner auf. Wir haben sie alle vorab getroffen, um über ihre Niederlagen zu sprechen. Jeder scheitert auf seine Art und Weise im Leben. Vielleicht ist Scheitern das Menschlichste am Menschen. Und vielleicht ermöglichen die Geschichten dieser drei Menschen eine Annäherung an die Frage, wie wir als Gesellschaft mit Misserfolgen umgehen. 

Auf dem Türschild von Thomas Winter steht vor seinem Namen noch «Familie». Hier im Zürcher Weinland hat der Tech-Manager jahrelang mit seiner Partnerin und zwei Kindern gelebt. Heute schläft er allein in seinem dreistöckigen Haus mit Garten. «Mein Job und meine Familie waren meine Stützpfeiler im Leben», sagt Winter.

Der ehemalige Microsoft-Manager Thomas Winter.
Foto: Philippe Rossier

Bei Microsoft bestand sein Alltag aus Meetings, Mails und Zahlenreviews. 55 Stunden die Woche. Dann bekam er eine neue Chefin, mit der er sich nicht verstand. Sie habe sich an die Vorgaben gehalten, sagt Winter. Er, der selbsternannte Revoluzzer, habe Regeln brechen wollen. Auf seiner Managementstufe sei es wie bei einem Fussballtrainer: «Wenn es nicht passt, heisst es: Der Nächste bitte!» So dauerte es nur neun Monate, bis Winter im März 2022 seinen Job verlor.

Zeitgleich brach seine Partnerschaft auseinander. Sein Kalender war plötzlich leer. «Ich hatte nichts mehr. Diese Leere empfand ich als sehr ermüdend.» Geldsorgen hat er keine. «Aber darf es mir deswegen nicht schlecht gehen?»

Je steiler die Karriere, desto tiefer der Fall. Viele stünden zunächst wie vor einer Wand und wüssten nicht wie weiter, erzählt Christine Steindorfer (51), Autorin von zwei Sachbüchern zum Thema Scheitern. «Es schmerzt, weil die Vergangenheit zerbröckelt, als wäre alles bisher Geschehene nicht mehr von Bedeutung», sagt sie. Und die ersehnte Zukunft, in die man viel Zeit investiert hat, liegt in Scherben.

«Ich war schon fast panisch»

Winter wachte zwei Monate lang jeden Morgen auf, ohne zu wissen, was er an diesem Tag tun sollte. «Ich war schon fast panisch», sagt er. In dieser Zeit sei er von verschiedenen Seiten gefragt worden, was er falsch gemacht habe. «Ich habe mir dann überlegt: Wie erkläre ich das, ohne dass es wie eine Ausrede klingt?»

Wer scheitert, versucht teils, den Misserfolg zu vertuschen. Etwas, das Winter am Ende des Interviews sagt, verdeutlicht weshalb: «Je nachdem, was du im Artikel über mich schreibst, finde ich danach nie wieder einen Job.» Es ist die Angst, als Versager abgestempelt zu werden. 

In einer Gesellschaft, die sich vor allem über Leistung und Erfolg definiert, sind Menschen, die über ihre Misserfolge sprechen, verletzlich. Wer schreibt seine Bruchlandungen in den Lebenslauf? Wer will schon Schwäche eingestehen? In der Natur werden die Schwachen gefressen. 

Dann kommt die Gier

Während sich die Krise anbahnt, lässt sich Olga Miler (48) nichts anmerken. Die Unternehmerin hat seit längerem ein ungutes Bauchgefühl. Dann schaut sie den Umsatz ihres Start-ups genauer an – und sieht tiefrote Zahlen. Das war vor 20 Jahren, als sie bei der UBS als Finanzexpertin arbeitete und nebenbei mit zwei Kollegen ein Start-up im Fitnessbereich aufbaute. 

Anfangs lief es gut, «doch dann wurden wir zu gierig», sagt sie bei sich zu Hause in Zürich-Wipkingen ein paar Tage vor der «FuckUp Night». Ihr Gründerteam wollte mehr Gewinn, einen zweiten Standort eröffnen, expandieren. Doch die Kundschaft im neuen Fitnessstudio blieb aus. Die Fixkosten blieben ungedeckt.

Die Start-up-Unternehmerin Olga Miler.
Foto: Philippe Rossier

«In dieser Zeit fühlte ich mich extrem einsam», sagt Miler. Ihr Team zerstritt sich. Anderweitig holte sich Miler keine Hilfe, weil sie Angst davor hatte, was die Leute sagen würden. Erst als die Liquidierung des Start-ups feststand, ging sie zum Investor, um ihn darüber zu informieren. «Von seiner Reaktion war ich völlig überrascht.» Der Investor meinte, sie habe alles Mögliche versucht, nichts veruntreut und sich korrekt verhalten. «Zu hören, wie er mich nicht verurteilt, war ein fantastisches Erlebnis», sagt Miler. Nur etwas habe er angemerkt: «Wenn du früher zu mir gekommen wärst, hätte ich vielleicht noch helfen können.» 

Der Schweizer Inkassodienstleister Creditreform registrierte 2023 fast 10’000 Konkurse. Von zehn Start-ups überlebt nur eines die ersten drei Jahre. «Viele Ideen müssten nicht sterben, wenn man frühzeitig Unterstützung einholt», meint Miler. «Aber leider haben wir in der Schweiz keine Kultur des Scheiterns.» 

Er trinkt ein Bier, dann zwei, drei

Beim Unternehmer Felix Bertram (49) überbringt ein Architekt die unerfreuliche Nachricht. Bertram will seine Dermatologie-Klinik in Lenzburg AG vergrössern, doch der Bau verzögert sich um sechs Monate. Zwei Millionen Franken zusätzlich kostet alles. «Da war das Desaster klar», sagt der Unternehmer. 

Unter seinen über 100 Mitarbeitenden verbreitet sich die Misere. Gerüchte machen die Runde. Von einer Kündigungswelle wird gemunkelt, vom Aus des Unternehmens. Eine Abwärtsspirale beginnt. Einige kündigen von sich aus und schreiben auf Kununu, einer Onlineplattform zur Bewertung von Unternehmen: «Horror-Arbeitgeber». 

Bertram sagt: «Ich hatte das Gefühl, dass ich strauchle, und die Leute mit Genuss von allen Seiten noch nachtreten.» Er schläft kaum mehr, trinkt ein Bier, dann zwei, dann drei. Dasselbe mit Schlaftabletten. Nachts knirscht er mit den Zähnen, bis ein Zahn völlig kaputt ist und er eine Schiene tragen muss. Freizeit gönnt sich der Unternehmer keine mehr. Die Liquidität droht auszugehen. 

Felix Bertram ist Inhaber mehrerer Dermatologie-Praxen.
Foto: Philippe Rossier

So geht es ein Jahr lang, bis seine Bank einen zusätzlichen Kredit von zwei Millionen Franken gewährt. Die finanzielle Krise ist hiermit abgewendet, doch Bertram hat ein weiteres Schockerlebnis. Er lässt die Entzündungswerte seiner Zellen messen. Bertram, ein 49-Jähriger, hat das biologische Alter eines 74-Jährigen. 

Crisis, das lateinische Wort, markiert einen Wendepunkt. So auch für Bertram. Er zieht die Reissleine, verabschiedet sich weitgehend aus dem operativen Geschäft, verzichtet auf Alkohol, setzt die Tabletten ab und nimmt sich die Vormittage frei. Heute floriert sein Unternehmen wieder. 

Olga Miler hat ebenfalls ihre Lehren aus der Krise gezogen. Für ihr neues Start-up in der Finanzberatung hat sie teils auf Investorengeld verzichtet, um «bescheidener und nachhaltiger zu wachsen», sagt sie.

Und Thomas Winter hat ein Seminar zur Persönlichkeitsentwicklung besucht, in dem er realisierte: «Ich hatte mich selbst nicht gern.» Die vielen Meetings und langen Arbeitstage lenkten ihn ab, da er die Stille nicht ertrug. «Heute kann ich das», sagt er. Eine neue Anstellung hat er noch nicht, doch ein neues Ziel: Er will Start-ups im Marketing und Verkauf unterstützen.

«Die Menschen wollen ein Happy End»

Winter, Miler und Bertram haben ihre Krisen überwunden – sie sind wie Phönix aus der Asche auferstanden. Ihre Geschichten handeln vom Scheitern, doch letztlich münden sie eben doch wieder im Erfolg. Ein Organisator der «FuckUp Nights» sagt es so: «Am Schluss ist es wie im Kino. Die Menschen wollen ein Happy End.»

Wer hingegen im Leben alles verliert und in seiner Misere gefangen bleibt, stellt sich nicht auf eine Bühne. Vielleicht verrät dies mehr über unsere Gesellschaft als jede dieser drei Geschichten. 

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